Stuttgart 21 2025

Stuttgart 21: Alltag für Gen Z

Das Bauprojekt Stuttgart 21 sollte bereits vor sechs Jahren fertig sein. Doch die Fertigstellung zieht sich. Nun verkündeten die Projektpartner, dass der neue Tiefbahnhof im Dezember 2026 in Betrieb genommen werden soll – allerdings nur teilweise. Für junge Menschen ist das kaum eine Überraschung. Etwas anderes als Schienenersatzverkehr und Baustellen kennen sie kaum.


Wer in Stuttgart umsteigt, erlebt das Bauprojekt „Stuttgart 21“ zwangsläufig am eigenen Leib: Reisende müssen vom Kopfbahnhof, wo ICE und Regionalzüge halten, etwa eine Viertelstunde um die Baustelle zur S- und U-Bahn laufen. „Ich nutze seit dem Umbau keine Regionalzüge mehr”, sagt eine Jugendliche aus Stuttgart. Sie hat Krücken, ihr Knie mache die extra Meter nicht mit.

Das Dach des neuen Tiefbahnhofs besteht aus Stahlbeton und wird von sogenannten Kelchstützen getragen.

Das Dach des neuen Tiefbahnhofs besteht aus Stahlbeton und wird von sogenannten Kelchstützen getragen. (Quelle: Kevin Wetrab)

Dass Stuttgart 21 mehr als ein Umweg am Hauptbahnhof ist, wissen wahrscheinlich die wenigsten Reisenden. Das Gemeinschaftsprojekt beinhaltet den Bau von vier neuen Bahnhöfen, 56 Kilometern Tunnelröhren, 42 Brücken, elf Tunneln und rund hundert Kilometern neue Gleise. Im Hauptbahnhof Stuttgart entsteht das Herzstück des Projekts: der Tiefbahnhof als „digitaler Knotenpunkt“. Er soll mitsamt Leit- und Sicherungstechnik rein digital funktionieren. Zudem ist auf der Fläche des alten Kopfbahnhofs ein völlig neues Stadtquartier geplant – das Rosensteinviertel. Durch die Tieferlegung des Bahnhofs entsteht möglicher Wohnraum für circa zehntausend Menschen. Doch die Fläche kann erst dann bebaut werden, wenn es eine Alternative zum jetzigen Kopfbahnhof gibt. Zudem muss eine Paragraphänderung des Allgemeinen Eisenbahngesetzes durch den Bundesrat bewilligt werden. Stimmt dieser zu, dürfen ehemalige Bahngrundstücke entwidmet und neu genutzt werden.Wann das geplante Rosensteinviertel entsteht, ist noch unklar.

Plan
Durch den Rückbau der Gleise sollen 85 Hektar frei werden: Fläche für das geplante Rosensteinviertel. (Quelle: asp Architekten/Koeber Landschaftsarchitektur, Wettbewerbsentwurf 2019)

Ein polarisierendes Projekt

Außerhalb von Baden-Württemberg ist Stuttgart 21 kaum bekannt. Eine 16-Jährige aus Essen schüttelt beim Begriff „S21” nur den Kopf. Doch die Generation Z aus Baden-Württemberg ist mit dem Bauprojekt groß geworden. Sie waren im Kindergartenalter, als tausende Menschen 2010 gegen das Bauprojekt protestierten. Mit dem Volksvotum ein Jahr später fiel die endgültige Entscheidung über den Bau – ohne die Stimme der jungen Menschen. Bei einer Wahlbeteiligung von 48,3 Prozent stimmte die Mehrheit der Baden-Württemberger für den Neubau. Dagegen waren 41 Prozent der Wählerinnen und Wähler. Die beiden großen Konfliktparteien bestehen jeher. Einerseits die Projektpartner, darunter die Deutsche Bahn, der Bund, das Land Baden-Württemberg und die Stadt Stuttgart. Für sie bedeutet Stuttgart 21 vor allem verkürzte Fahrtzeiten, Digitalisierung und architektonische Perfektion. Riesige Kelche aus Beton ragen am unfertigen Tiefbahnhof aus dem Boden, verglaste Fensteraugen säumen die Decke.

Auf der anderen Gegenseite stehen Demonstranten, die sich beispielsweise im Aktionsbündnis gegen Stuttgart 21 zusammengeschlossen haben. Immer noch regelmäßig protestieren sie montags gegen das Bauprojekt. Für sie bedeutet es nur Kosten, Streckensperrungen und Umweltverschmutzung. Zuletzt protestierten sie gegen das abschnittweise Kappen der Gäubahn, eine Verbindung von Stuttgart bis Zürich.

Am Verhandlungstisch: Versuchte Schlichtung

Im Jahr 2011 fand deswegen eine „S21-Schlichtung” statt: Die beiden Meinungspole sollten an den Verhandlungstisch kommen. Für das Projekt diskutierte beispielsweise Stefan Mappus, der damalige CDU-Ministerpräsident des Landes Baden-Württemberg, dagegen der jetzige Grünen-Ministerpräsident Winfried Kretschmann. Moderator Heiner Geißler präsentierte Verbesserungsvorschläge für Stuttgart 21, darunter auch den Erhalt der Gäubahn zwischen Stuttgart-Vaihingen und dem Hauptbahnhof in Stuttgart. Laut ihm akzeptierten beide Parteien den Kompromiss – jedoch ohne rechtliche Bindung. Die Kappung der Gäubahn in Stuttgart-Vaihingen wurde nun offiziell auf 2027 verschoben, doch die Gegner lassen nicht nach. Noch in diesem Jahr werden sie zum 800. Mal streiken.

Die endlose Geschichte: Fertigstellung zieht sich weiter

Die erste S-21-Machbarkeitsstudie der Deutschen Bahn wurde vor 30 Jahren präsentiert. 2009 unterzeichneten die Projektpartner den Finanzierungsvertrag, der Gesamtkosten von 3,076 Milliarden Euro vorsah. Das Ziel: Stuttgart 21 bis 2019 fertigstellen. Doch 2025 arbeiten immer noch geschätzte 500 Mitarbeiter auf der Baustelle am Tiefbahnhof, seine Eröffnung verschiebt sich immer weiter nach hinten. Währenddessen steigen die Kosten weiter –mittlerweile auf rund 11,5 Milliarden Euro. Am 18. Juli verkündeten die Projektpartner, dass ab Dezember 2026 ICE-Züge durch den neuen Tiefbahnhof fahren sollen. Doch Stuttgart 21 ist dann noch nicht abgeschlossen. Die Nahverkehrszüge sollen größtenteils noch in den Kopfbahnhof fahren.

Aus 2019 wird 2026

Dafür gibt es viele Gründe. Das Projekt strauchelt in den Neunzigern, noch bevor der eigentliche Bau beginnen kann. Der damalige Bahn-Chef stoppt die Bauplanungen vorerst. Entsprechend vertagt der Bahn-Aufsichtsrat die Entscheidung bis ins Jahr 2000 sechs Mal. Dann gelingt jedoch der politische Durchbruch: Der Bund und die Länder Baden-Württemberg und Bayern einigen sich auf eine Vorfinanzierung. Am 14. März 2001 genehmigt der Aufsichtsrat den Bau.

Stuttgart 21 entpuppt sich als komplexes Megaprojekt und als Probe, ob die Deutsche Bahn rein digital funktionieren kann. Stuttgart als digitaler Knotenpunkt bedeutet: Der Einbau aufwendiger Technologien, die vor ihrem richtigen Einsatz zuerst in einer Testphase geprüft werden müssen. Doch diese Phase ist noch nicht erreicht. Und während sich die Fertigstellung in die Länge zieht, verändern sich Bauvorschriften und Gesetze. So zum Beispiel die Regeln im Brandschutz, aber auch Artenschutz. Was anfänglich kein Problem war, bedeutet jetzt: ein aufwendiger Eidechsenumzug. Die Deutsche Bahn hat daher mehrere tausend Mauer- und die Zauneidechsen umgesiedelt. Zum Beispiel von der Baustelle in Ober- und Untertürkheim zur Feuerbacher Heide. Stuttgart 21 ist so auch deutsche Bürokratie unter dem Brennglas.

Die Mauereidechse steht unter strengem Artenschutz. Da sie innerhalb der Projektgebiete für Stuttgart 21 nahezu überall lebt, musste sie umgesiedelt werden. (Bildquelle: Pixabay, Annette Meyer)

Wie die Stuttgarter mittlerweile zu Stuttgart 21 stehen

„Mit dem Wissen von heute würde man das Projekt nicht mehr bauen”, sagte der Bahn-Vorstandschef Richard Lutz gegenüber der „Rhein-Neckar-Zeitung” vor sieben Jahren. Es ist unklar, ob die Baden-Württemberger noch für Stuttgart 21 stimmen würden, wüssten sie von der verschobenen Eröffnung und den explodierenden Kosten. Seit der Volksabstimmung 2011 fand keine repräsentative Umfrage mehr statt. Die Medien zeigen einerseits Bilder von Montagsdemos, die an ihrer Kritik festhalten. Andererseits lächeln Politiker in die Kamera, die sich über die baldige Fertigstellung freuen – ein Dazwischen gibt es medial kaum.

„Die politische Entscheidung für Stuttgart 21 ist mit der Volksabstimmung 2011 endgültig gefallen”, sagt Jörg Hamann, Leiter Kommunikation der DB Projektgesellschaft Stuttgart-Ulm. Er geht davon aus, dass der Großteil dem Projekt weiterhin zustimmt. Ein Indiz: die Besucherzahlen des unfertigen Tiefbahnhofs. Laut David Bösinger, dem Leiter des InfoTurmStuttgart (ITS), besuchten 2024 rund 215.000 Menschen die Ausstellung über das Bauprojekt im ITS. Zudem gab es vergangenes Jahr circa 1.450 Baustellenführungen. „Die Personenzahl schwankt und wird nicht explizit erhoben, sodass wir mit über 20.000 Gästen auf unseren Führungen rechnen”, so Bösinger.

An Tagen der offenen Baustelle ist der unfertige Tiefbahnhof voller Besuchenden.
An Tagen der offenen Baustelle ist der unfertige Tiefbahnhof voller Besuchenden. (Quelle: Kevin Wetrab)

„Diese Zahlen gehen zigfach über die Teilnehmendenzahlen bei den sogenannten Montagsdemos hinaus und können als Abstimmung mit den Füßen gewertet werden”, sagt Hamann. Doch auch wenn sich viele Besichtigende für Stuttgart 21 interessieren, bilden sie noch längst nicht die Einstellung aller ab. Und eine Personengruppe, die sich besonders wenig über das Bauprojekt äußert, sich wenig äußern kann: die Jugend.

Die Gen Z: Betroffen, aber vergessen

Aufkleber
Ein typisches Stickermotiv der Projektgegner. (Quelle: Hanna-Maria Lang)

Bei der Volksabstimmung vor 14 Jahren konnten heutige Jugendliche nicht mitwirken. Sie saßen im Kinderwagen, während ihre Eltern vielleicht gerade einen Anti-Stuttgart-21-Sticker auf ihr Auto klebten. Ein Blick auf die Montagsdemos 2025 zeigt ein Meer aus grauen Schöpfen statt junger Menschen. Stuttgart 21 wurde über die Köpfe der Gen Z demonstriert und auch endgültig entschieden. Trotzdem sind sie vermutlich mehr als die Entscheidenden selbst von den Folgen des Umbaus betroffen. Wenn ihnen das Autofahren noch nicht erlaubt oder zu teuer ist, müssen Jugendliche zwangsläufig öffentlich fahren. Das belegt die Studie „Mobilität in Deutschland“ des Bundesministeriums für Digitales und Verkehr aus dem Jahr 2023: Die 11- bis 30-Jährigen zählen zu den Altersgruppen, die den öffentlichen Personennahverkehr am häufigsten nutzen. Die baden-württembergischen Jugendlichen sind mit Stuttgart 21 aufgewachsen; Streckensperrungen, Zugausfälle und Baustellen gehören zu ihrem Alltag. Ist das Projekt irgendwann fertiggestellt, erlebt die Jugend teils zum ersten Mal einen Stuttgarter Bahnhof ganz ohne Baustelle. „Ich freue mich, wenn der neue Bahnhof eröffnet”, sagt eine junge Bahnfahrerin, „die Frage ist nur wann.”