Roter geschlossener Vorhang, auf den ein Scheinwerfer leuchtet.

Gemeinsam einsam im (post-) pandemischen Theater?

„Theatre doesn’t last – only in peoples’ memories and in their hearts. And that’s the beauty and sadness of it. But that’s life- beauty and sadness. And that’s why theatre is life. “

Vor ungefähr vier Jahren habe ich dieses Zitat, dessen Ursprung mir leider unbekannt ist, das erste Mal gelesen. Seitdem begleitet es mich. Es hängt in meinem Zimmer. Ich lese es Tag für Tag. Ich mag es, weil es die bittersüße Ambivalenz des Theaters aufzeigt. So ich diesen Worten immer schon eine hohe Bedeutung zugemessen habe, glaube ich, es heute erst richtig zu verstehen. Denn seit einem Jahr ist das Theater für mich nichts mehr als das, als was es in diesem Zitat definiert wird: Eine Erinnerung.

Der Beginn der Pandemie bedeutete schnell das Ende für alle laufenden Kulturveranstaltungen, somit waren auch Theater betroffen: Die Bretter, die die Welt bedeuten, bleiben unbespielt. Die Säle erfüllt lediglich das Schweigen des nicht vorhandenen Publikums. Und so werden Theatergänger seit über einem Jahr auf wage Termine in der Ferne vertröstet. Nur noch bis Weihnachten, nur noch bis Ende Mai, nur noch bis Ende des Sommers… Doch ganz trostlos scheint es, auf den ersten Blick, dann doch nicht zu sein: Beispielsweise bewerben die Staatstheater Stuttgart ein abwechslungsreiches Programm im Netz und am Telefon, ein Spezialprogramm, bei dem sie ihrem kultur-durstigen Publikum viel Vergnügen wünschen. Gemeint ist damit zum einen das Lyriktelefon, bei dem man anrufen und sich zwanzig Minuten verschiedenste Gedichte à la Goethe, Fauser und Rilke durch Ensemble-Mitglieder vortragen lassen kann.
Zum anderen gibt es verschiedene Streaming-Angebote, sozusagen Theater fürs Wohnzimmer. An Alternativen zum klassischen Theaterbesuch hat es in letzter Zeit definitiv nicht gemangelt. 

Über das Ausbleiben der Kultur und der damit verbundenen prekären Lage derer, die in dieser Branche, in welcher Rolle auch immer, tätig sind, wurde viel diskutiert. Eine wichtige und – aus meiner Sicht – viel zu wenig diskutierte Frage ist: Was passiert mit dem Theater und mit uns, wenn alles rundherum wegfällt? 

Ich habe mich bewusst dagegen entschieden, Online-Veranstaltungen der Theater zu besuchen. Zum einen, weil es mir einfach zu anstrengend war, zusätzlich zu meinem Online-Studium jetzt auch noch Online-Freizeitgestaltung zu betreiben. Zum anderen, weil ich bezweifle, dass mir diese Formate irgendeine Art von Eskapismus, Katharsis oder ein Gefühl der Unterhaltung gegeben hätten. Denn genau dafür bin ich immer ins Theater gegangen: Ich wollte meinem Alltag entfliehen, wollte Ablenkung und mich von inneren Spannungen befreien – und ganz nebenbei auch einfach mal etwas aufwendiger gestylt in die Stadt gehen. Wie soll ich also meinem Alltag entfliehen, wenn sich mein Zufluchtsort, das Theater, in genau diesen Alltag drängt? Die meisten von uns haben es durch Home-Schooling, Home-Office etc. am eigenen Leib erfahren: Zu Hause ist man abgelenkt und neigt dazu sich mit allem, nur nicht mit der Arbeit zu beschäftigen. Genau das trifft auch zu, wenn man sich ein für die Bühne geschriebenes Stück auf der Mattscheibe anschaut, während im Nebenraum der Geschirrspüler läuft. Neben Netflix, Amazon Prime und neuerdings Vorlesungen jetzt also auch noch Theater streamen? Nein, danke. 

Man darf das Ambiente des Theaters nicht herunterspielen, für mich ist es ein entscheidender Faktor, welcher das Theatererlebnis ausmacht. Es fängt mit dem Gefühl an, wenn man den Saal betritt, wenn man den Blick schweifen lässt über die Sitze, die Bühne, bis zur scheinwerferbestückten Decke. Währenddessen ist man automatisch still. Wenn man Glück hat, ist das Bühnenbild nicht durch einen Vorhang versteckt, sodass man Zeit hat, sich einen Einblick zu verschaffen und zu grübeln, was man sich Regie und Dramaturgie wohl dabei gedacht haben. Der schönste und unbeschreiblichste Moment ist der, wenn die Türen sich schließen und das Licht erlischt. Plötzlich ist er da: der geschützte, geschlossene Raum, abgeschottet von der Außenwelt. Der Fokus liegt jetzt einzig und allein auf der Bühne, die sich wie ein Tor hin zu einer anderen Welt vor einem aufbaut. Die Stimmen des Alltags, die der Sorgen und Ängste im Inneren verstummen. Jetzt gibt es keine Abgabetermine, keine Rechnungen, die bezahlt werden müssen, keine Wäsche, die aufgehängt werden muss. Jetzt gibt es nur das Dasein, die bloße Existenz. Alles was man hört, bevor die Schauspieler mit dem Spiel beginnen, ist der eigene HerzschlagKein Wohnzimmer dieser Welt kann einen Theatersaal ersetzen.

Der leere Theatersaal des Schauspiel Stuttgart

Für die einen mag es pessimistisch, vielleicht sogar arrogant klingen, für mich ist es eine logische Entscheidung: Ich erlebe lieber keine Kultur, als Kultur zu erleben, die meine Bedürfnisse nicht stillt. Betonen möchte ich hier, dass es nicht um die künstlerische Leistung der Schauspieler geht, sondern einzig und allein um meine persönlichen Befindlichkeiten. Ich möchte die pandemischen Formen des Theaters unter keinen Umständen herabwürdigen, das würde ich mir nicht erlauben. Im Gegenteil, ich bin begeistert, was man sich alles hat einfallen lassen, um den Kulturbetrieb am Laufenden zu halten. Abgesehen davon war es für die Kulturstätten wenigstens eine Möglichkeit, einige Einnahmen zu generieren und für die Kulturschaffenden eine Chance ihrer Arbeit, ihrer Leidenschaft nachzugehen, auf die sie so lange verzichten mussten. Zudem scheint diese Art der Kultur während des Lockdowns auch eine positive neue Erfahrung für viele Menschen gewesen zu sein. Einen Vorteil des Ganzen haben viele darin gesehen, dass man nun nicht mehr an das Theater in der Nähe des Wohnorts gebunden war. Plötzlich gab es ein digitales Nebeneinander unterschiedlicher Inszenierungen. Ob Hamburg, Berlin oder London: Bühnen, die sonst so fern waren, sind nun gerade in Zeiten von Social Distancing so nah – eine wirklich bizarre Ambiguität. 

Doch mit dem Frühjahr kommt die Hoffnung: die sinkenden Inzidenzzahlen ermöglichen es, dass die Theater – unter Hygienebedingungen – ihre Türen wieder für Publikum öffnen können. Ich habe das Vergnügen, mir eine Inszenierung von Molière’s Don Juan im Schauspiel Stuttgart anzuschauen. Endlich hatte ich die Chance, wieder ein Theater von innen zu sehen. Jedoch begleitete mich auch hier eine gewisse Skepsis: Erreiche ich bei allen Regeln und der ständigen Begleitung des unwohlen Gedankens an die Pandemie den gewohnten Wohlfühl-Zustand? Sehne ich mich nach monatelangem Entzug nach einem Theaterbesuch mit Maske, Mindestabstand und nur halbvollem Saal? 

Natürlich war es ungewohnt, nicht einfach ohne Weiteres das Gebäude betreten zu können. Dass ich einmal einen negativen Antigen-Schnelltest vorweisen muss, um mir ein Stück anzusehen, hätte ich auch nie gedacht. Nun gut, wir hätten so einiges nicht gedacht, was in den letzten anderthalb Jahren passiert ist. Trotz allem war ich schnell angekommen in der Welt der darstellenden Künste. Beim Betreten des Saales, pünktlich fünfzehn Minuten vor Spielbeginn nach dem ersten Gong ließ ich meinen Blick mit der wohlvertrauten Begeisterung über das Geschehen schweifen. Es erfüllte mich ein angenehmes Gefühl der Entspannung als ich sah, wie sich der Saal langsam mit mehr Menschen füllte, die durch ihre Gespräche das vertraute Stimmengemurmel in den Saal brachten. Es dauerte nicht mehr lang, bis das Licht ausging und die Künstler die Bühne betraten. Und von diesem Moment an, gab es nichts mehr, was mich zweifeln ließ. Es war, als würde die Zeit stillstehen: Es gab kein Corona, keine Ängste, keine Sorgen. Da war es wieder: Das bloße Dasein. 

Ein dunkles Bühnenbild der Inszenierung von Don Juan des Schauspiel Stuttgart mit blauen und pinken Lichteffekten. Fünf Schauspieler befinden sich auf der Bühne in weißen Kostümen. In der Mitte findet ein Puppenspiel statt. Im Hintergrund ist der Nachthimmel mit einem sichelförmigen Mond angedeutet.
Foto: Monika Rittershaus

Das Stück endet und die gespannte Stille des Raumes füllte sich mit gebührendem Applaus. Endlich waren wir nicht mehr gemeinsam einsam, sondern gemeinsam glücklich. Mit einem breiten Lächeln im Gesicht, welches leider unter meiner Maske verborgen blieb, verließ ich den geschützten Raum und war wieder in der Realität angekommen. Der Himmel über Stuttgart hatte sich zugezogen, schon von innen hörte man das laute Prasseln der warmen Tropfen des Sommerregens. Es war wie eine Dusche, die mich mit Hoffnung übergoss – Hoffnung auf Normalität. Hoffnung auf Kultur. Vielleicht sogar ohne Test, Maske und Abstand. Denn trotz aller Freude an diesem Theaterbesuch, der natürlich nicht normal war, fehlte etwas. Es fehlte die Gelassenheit und Unbeschwertheit der Menschen. Theater beginnt eben nicht erst auf der Bühne, Theater ist nicht die bloße Rezeption – und schon gar kein Nebenbei-Medium auf dem Sofa – es geht um mehr. Es geht um das Ambiente im Foyer, in dem die Menschen ihre Jacken an der Garderobe abgeben, sich im Theater-Shop ein Programmheft kaufen oder sich zusammen mit einem exklusiven Kaltgetränk hinsetzen, um sich zum wiederholten Male zu echauffieren, dass es anscheinend auch im 21. Jahrhundert – oder gerade deswegen – als okay gilt, mit Jeans und Sneakern ins Theater zu gehen. Es sind die kleinen Dinge, die aufgrund ihres Nichtvorhandenseins einen großen Unterschied gemacht haben. Das richtige Theater, bleibt also doch vorerst eine Erinnerung.

Wann die gewünschte Normalität und mit ihr das normale Theater zurückkommt, kann niemand sagen. Doch ich wage mir zu behaupten, dass es nicht utopisch ist zu hoffen, dass wir auf einem guten Weg sind. Wie schnell sich die Theater trotz der Regeln und Einschränkungen gefüllt haben, wenn auch gezwungener Maßen nur zur Hälfte, zeigt, wie sehr Menschen sich nach Kultur sehnen. Und auch wenn die jetzige Form dieses (post)-pandemischen Theaters wohl erstmal die bleiben wird, die mit Maske, 3G-Nachweis und Abstand gilt, leistet man mit seinem Besuch einen Beitrag. Denn sämtliche Kulturstätten, auch abgesehen vom Theater, brauchen jetzt unsere Unterstützung. Indem wir die Angebote nutzen, unterstützen wir die Künstler und alle Menschen, die daran beteiligt sind, uns ein kulturelles Erlebnis zu schenken. Die Frage nach einem großen Wiedersehen ohne Masken und Impfnachweis im ausverkauften Haus lässt sich zum jetzigen Zeitpunkt nicht beantworten, es gibt zu viele unvorhersehbare Faktoren. Wie so oft auf der Bühne, haben wir auch hier in unserer Realität ein offenes Ende. Spätestens hier wird sichtbar: Theater ist Leben. Wir wissen nicht, wie es weitergeht, doch eins ist klar: Es muss.

Verehrtes Publikum, jetzt kein Verdruß:
Wir wissen wohl, das ist kein rechter Schluß.
Vorschwebte uns: die goldene Legende.
Unter der Hand nahm sie ein bitteres Ende.
Wir stehen selbst enttäuscht und sehn betroffen
Den Vorhang zu und alle Fragen offen.
Dabei sind wir doch auf Sie angewiesen
Daß Sie bei uns zu Haus sind und genießen.
Wir können es uns leider nicht verhehlen:
Wir sind bankrott, wenn Sie uns nicht empfehlen!
Vielleicht fiel uns aus lauter Furcht nichts ein.
Das kam schon vor. Was könnt die Lösung sein?
Wir konnten keine finden, nicht einmal für Geld.
Soll es ein andrer Mensch sein? Oder eine andre Welt?
Vielleicht nur andere Götter? Oder keine?
Wir sind zerschmettert und nicht nur zum Scheine!
Der einzige Ausweg wär aus diesem Ungemach:
Sie selber dächten auf der Stelle nach
Auf welche Weis‘ dem guten Menschen man
Zu einem guten Ende helfen kann.
Verehrtes Publikum, los, such dir selbst den Schluß!
Es muß ein guter da sein, muß, muß, muß!


 – Bertolt Brecht, Der gute Mensch von Sezuan (Epilog)


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