Eine junge Frau arbeitet an ihrem Laptop. Sie sitzt vor einem Bücherregal

Frauen in Rot- Männerdomäne Wikipedia?

Unsere Redakteurin Melanie geht der Frage nach, was passiert, wenn hauptsächlich Männer das größte Nachschlagewerk des 21. Jahrhunderts schreiben.  Ist die Wikipedia ein einsamer Ort für Frauen im Internet? Reproduziert die Online-Enzyklopädie nur sexistische gesellschaftliche Strukturen, oder werden diese von der männlich geprägten Community verstärkt?

Laut Wikipedia stellt eine Enzyklopädie „eine Zusammenfassung des gesamten Wissens dar.“ Die kostenlos zugängliche Seite wurde vor 20 Jahren von Jimmy Wales und Larry Sanger gegründet. Erstmals stand systematisiertes Wissen frei zugänglich und in verschiedensten Sprachen zur Verfügung. Freiwillig tätige Wikipedianer*innen passen dieses Wissen ständig an, erweitern und aktualisieren es. Jede*r kann Wikipedia-Artikel verfassen, die Seite ist ein weltweites Gemeinschaftsprojekt. Dennoch beträgt Anteil weiblicher Autor*innen weltweit nur 9%. gelöscht.

Die Sprachwissenschaftlerin Maja Linthe, die an der Uni Mannheim zur Wikipedia forscht und lehrt, nennt verschiedene Gründe für die geringe Anzahl nicht-männlicher Autor*innen. Die Plattform sei am Anfang ein „Dschungel“, in dem es nicht so einfach sei, sich zurechtzufinden. Um den Einstieg zu erleichtern, gebe es ein Mentor*innen-Programm. Nicht selten schrecke der etwas ruppige Ton auf Diskussionsseiten, der verstärkt in feministischen Diskussionen aufkomme, Frauen von einer langfristigen Mitarbeit ab.

„Die einzige Entscheidung, die da getroffen wird, ist die, ob die Dame relevant ist,“ steht auf der Diskussionsseite des Wikipedia-Eintrags von Influencerin Louisa Dellert. Ihre Biografie wurde anschließend gelöscht.
Nicht nur Influencerin Louisa Dellert, sondern auch Physik-Nobelpreisträgerin Donna Strickland, oder die Journalistin Leila Al-Serori sind, oder waren „Frauen in Rot“. Ein rot hinterlegter Name dient in dem Online-Lexikon als Platzhalter für einen nicht existenten Wikipedia-Eintrag. Als die Physikerin Strickland 2018 den Nobelpreis verliehen bekam, gab es in der englischsprachigen Wikipedia keine Informationen zu Arbeit und Person. Nur wenige Monate zuvor war ihre Biografie aufgrund von „mangelnder Relevanz“ wieder gelöscht worden.

Auf den Diskussionsseiten findet ein ständiger Austausch und Aushandlungsprozess um Wissen statt der, den Wikipedia eigenen Zahlen folgend, von Männern dominiert wird. Wird ein Löschantrag gestellt, entscheiden Autor*innen mit Sichtungsrechten über diesen Antrag. 90% der Wikipedia-Autor*innen sind Männer. Entscheidungen über die Relevanz von Biografien treffen somit meist männliche Wikipedianer.

Nur 16,5% aller Biografien in der deutschsprachigen Wikipedia sind Frauen gewidmet. Es gibt klare Vorgaben über wen und was das Online-Nachschlagewerk Auskunft geben soll. Für viele Personengruppen gibt es eigene Relevanzkriterien, beispielsweise die Anzahl wissenschaftlicher Publikationen, oder die Erwähnung in Fach-Lexika. Der Wikipedia-Gender-Gap ist so relevant, dass er einen eigenen Wikipedia-Eintrag hat. Kritiker*innen weisen darauf hin, dass für Frauen die gleichen Relevanzkriterien wie für Männer gelten. Aufgrund gesellschaftlicher Hürden seien ihre Chancen diesen gerecht zu werden, viel geringer.

Die Welt „lässt sich historisch nicht ändern“, betont Maja Linthe. Die systematische Ausgrenzung von Frauen in der Berufswelt und in der Gesellschaft könne nicht einfach ausgeblendet werden. Sie spiegele sich aber natürlich auch in der Online-Enzyklopädie wider. Wer nie die Möglichkeit hatte bekannt zu werden, kann auch keinen Lexikon-Eintrag bekommen.

Um die Anzahl von Frauenbiografien zu erhöhen, gibt es seit 2016 das Projekt „Women in Red“. Ziel der Initiative ist es, die hohe Anzahl roter Frauennamen zu senken. Bei sogenannten Edit-a-thons – Arbeitstreffen bei denen Interessierte und erfahrene Wikipedia Autor*innen zusammenarbeiten – werden neue Frauenbiografien für die Online-Enzyklopädie erstellt, oder aus anderen Sprachversionen übersetzt.

Unsere Redakteurin Jule hat 2018 einen Edit-A-Thon besucht: Hier kannst du dir anhören wie ein solches Wikipedia-Treffen abläuft.

Für Maja Linthe ist die Wikipedia kein einsamer Ort für Frauen im Internet: Es gebe einen regen Austausch unter Frauen, Stammtische, Präsenz- und Onlinetreffen. „Corona hat diesen Austausch an manchen Stellen vereinfacht.“ Die Vorteile der offenen Online-Enzyklopädie würden überwiegen: Sie biete allen Menschen die Möglichkeit mitzuarbeiten, und eigene inhaltliche Schwerpunkte zu setzen. Linthe betont, dass man Relevanz auch an Biografien nachweisen, Beiträge historisch einbetten, oder auf Pionierleistungen hinweisen könne. Die Wikipedia biete die Möglichkeit, schwierige und ungewöhnliche Lebenswege aufzuzeigen.

Hier setzen Initiativen wie „Women in Red“ an: Sie zielen auf nachhaltige Veränderung, die langfristige Bindung neuer Autor*innen und das gezielte Verfassen weiblicher Biografien. Die Verkleinerung des Gender Gaps oder die Abschaffung des generischen Maskulinums bleiben freiwillige Aufgaben. Deren Erfüllung stößt in der männlich dominierten Community auch heute noch auf Widerstand. Die Wikipedia reproduziert und verstärkt gesellschaftliche Ungleichheiten: Frauen sind seltener bereit, sich dem ruppigen Ton auf Diskussionsseiten auszusetzen. Kritik, wie die an der fehlenden Angleichung der Relevanzkriterien trägt bisher nicht zu Veränderungen bei. Die Sichtbarkeit von Frauen* wird somit weiterhin eingeschränkt.


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