Das Gesicht eines Mannes mit glühenden Augen, Hörnern und einem langen Bart.

Germanische Mythologie: Zwischen Faszination und Missbrauch

Die germanische Mythologie fasziniert seit Jahrhunderten Menschen auf der ganzen Welt. Ihre Sagen und Götterwelten haben die europäische Kultur tief geprägt, von der Literatur über die Kunst bis hin zur Popkultur. Doch seit dem 19. und 20. Jahrhundert wurde diese Mythologie zunehmend ideologisch vereinnahmt – insbesondere von rechtsextremen Bewegungen, die sie für ihre Zwecke umdeuten und missbrauchen.

Aus dem Kontext reißen und neu deuten

Von der völkischen Bewegung des Kaiserreichs über die NS-Zeit bis hin zu heutigen rechtsextremen Gruppen zeigt sich eine kontinuierliche Instrumentalisierung der alten Mythen. Begriffe wie „Blut und Boden“, die Runensymbolik oder die Idee eines heroischen, reinen „germanischen Volkes“ wurden aus ihrem ursprünglichen Kontext gerissen und für rassistische, nationalistische und antisemitische Ideologien adaptiert. Diese Vereinnahmung prägt bis heute rechtsextreme Szenen, die sich auf nordische Götter, Wikinger-Ästhetik und heidnische Rituale berufen, um eine angeblich uralte und reine Identität zu konstruieren.

Was steckt hinter dieser Vereinnahmung? Ein Blick auf die Geschichte zeigt, dass die germanische Mythologie weit mehr ist als ein Werkzeug extremistischer Gruppen – doch ihr Missbrauch wirft wichtige Fragen über die Verantwortung im Umgang mit kulturellem Erbe auf.

Rudolf Simek, emeritierter Professor für mittelalterliche deutsche und nordische Literatur an der Universität Bonn, beschreibt in seinem „Lexikon der germanischen Mythologie“, was unter germanischer Mythologie zu verstehen ist. Danach ist es die „Gesamtheit der Glaubensvorstellungen des germanischen Heidentums, wie sie uns in Sachfunden, Bilddarstellungen und schriftlichen Quellen überliefert sind.“ Diese Vorstellungen würden sich laut Simek nicht nur auf Geschichten von Göttern, sondern auch auf Wesen der niederen Mythologie wie Alfen, Zwerge und Riesen beschäftigen. Außerdem setzen sie sich mit dem Beginn und der Endzeit der Welt, mit der Entstehung der Menschen, mit Schicksal, Tod und Jenseits auseinander, wie Simek beschreibt. „Auch in der Form der Anbetung der Götter, im Kult, in den Begräbnissitten und in der Einstellung zur Magie manifestieren sie sich“, heißt es weiter.

Thor als Sinnbild für Hitler?

Um zu sehen, wie sich diese etwas sperrige Definition in modernen Zeiten niederschlägt, hilft ein Abstecher in die Musikszene. Genauer: in die englische Musikszene der späten 70er- und frühen 80er-Jahre. Die Band „Skrewdriver“ gilt als Vorreiter der Rechtsrockszene und wandelte sich in den späten 1970ern von einer Punkband zu einer international bekannten neonazistischen Band. Sie bedient sich der germanischen Mythologie, um ihrer Weltanschauung überirdischen Nachdruck zu verleihen. In ihrem Song „God of Thunder“ heißt es: „We need a saviour, before long / Must be soon before the chance is gone / The great leader, from the north / A true warrior to defend the cause / God of Thunder, God of War / Hail Europe! Hail Thor!“

Wikingerhelme liegen auf Fellen. Im Hintergrund sind andere Teile einer Rüstung zu sehen.
Rechtextreme Strömungen nutzten Sagen über Krieger und Götter, um menschenfeindliche Ideologien zu untermauern. (Quelle: Pexels)

Die Rolle des Thors in der germanischen Mythologie ist die eines strahlenden Helden und Kriegsgottes. Darüber hinaus ist er Gott des Wetters und Gewitters und deshalb besonders für Seefahrervölker wie die Wikinger von großer Wichtigkeit und Bedeutung. In diesen Versen verklärt die neonazistische Band Skrewdriver ihn als Retter Europas. Es brauche einen starken Mann, der Europa rettet, das schon seit langer Zeit von Armut und Schwäche heimgesucht werde. Thor würde die Menschen retten. Die Schwächlinge würden beiseitegeschoben, damit die Starken „die Krankheit“ besiegen könnten. All dies sind eindeutige Anspielungen auf verschiedene Inhalte der Ideologie der Nationalsozialisten. In den weiteren Liedern der Band sind solche Verflechtungen von NS-Ideologie und germanischer Mythologie immer wieder zu finden.

„Ein starker Führer, der Europa rettet“ – Die eigentliche Rolle Thors in der germanischen Mythologie wird mit Sprache zu etwas verklärt, das an die Diktatoren Europas im 20. Jahrhundert erinnert, in vorderster Reihe an die von Adolf Hitler.

Die germanische Mythologie wird genutzt, um menschenfeindliche Ideologien zu untermauern und den fehlenden Logos der Ideologie durch einen herbeigedichteten Mythos zu ersetzen.

Germanische Mythologie inspirierte Ikonen der Popkultur

Doch die Interpretationen der germanischen Mythologie sind vielfältig. Ihre Spuren finden sich überall in der modernen Kultur. In Literatur, Film, Kunst und auch im Alltag lebt ihr Erbe weiter.

J.R.R. Tolkien ließ sich für „Der Herr der Ringe“ von alten Mythen inspirieren. Namen wie Gandalf oder Konzepte wie der Weltenbaum erinnern an nordische Sagen. Auch Richard Wagner griff mit seiner Oper „Der Ring des Nibelungen“ tief in die Schatztruhe der alten Erzählungen und verwandelte sie in ein musikalisches Meisterwerk. In der Popkultur sind Thor und Loki längst zu Ikonen geworden. Marvel hat ihre Geschichten für ein weltweites Publikum neu interpretiert, während Videospiele wie „God of War“ und „Assassin’s Creed: Valhalla“ die alten Mythen in interaktive Abenteuer verwandeln.

Alter Comic mit dem Gott Thor auf dem Titelblatt
Die germanischen Mythen inspirieren Literatur und Comics. (Quelle: Pexels)

Doch nicht nur in der Unterhaltung, auch in Kunst sind die Spuren der Mythologie zu finden. Künstler wie die Illustratoren John Bauer und Theodor Kittelsen haben mit ihren Werken fantastische Wesen und mythologische Landschaften zum Leben erweckt. Die Bedeutung der alten Götter reicht sogar bis in die Psychologie. Carl Gustav Jung, der Begründer der analytischen Psychologie, sah im Gott Wotan, auch als Odin bekannt, einen Archetypen des menschlichen Unterbewusstseins. Selbst unsere Sprache trägt noch Spuren dieser Zeit – der Wochentag Donnerstag ist etymologisch von dem Donnergott Thor, auch Donars genannt, abgeleitet und Vornamen wie Siegfried und Erik erinnern an die Helden vergangener Jahrhunderte.

Ein zweiseitiges Schwert

Besonders bemerkenswert ist die naturverbundene Weltanschauung der germanischen Mythologie. Der Weltenbaum Yggdrasil symbolisiert das Zusammenspiel aller Dinge – ein Gedanke, der auch heute Menschen dazu inspiriert, achtsam mit der Umwelt umzugehen.

Die germanische Mythologie ist ein lebendiger Teil der Kultur und inspirieren Literatur, Kunst und Musik. Ihre Geschichten, die nicht von dieser Welt scheinen, werden für vielfältige irdische Zwecke verwendet, die von Menschenhass und Gewalt zu Hochkulturen und weltweit gefeierten Werken reichen. Sie zeigen: Es kommt ganz auf Kontext und Interpretation an.