Jugend Ohne Zukunft Min

Eurotopia Extra: Jugend ohne Zukunft

Jugend ohne Zukunft. So nennen manche unsere Generation. Junge Menschen, die mit Extremismus und Hass, Klimawandel und Katastrophen konfrontiert sind. In Deutschland, Frankreich, Österreich, Estland, Kroatien, Italien, in allen europäischen Ländern blicken viele Jugendliche auf eine scheinbar hoffnungslose Zukunft.

Obwohl wir so viel mit ihnen gemeinsam haben, wissen wir kaum etwas über die anderen jungen Menschen in Europa. Ich will euch etwas von deren Leben zeigen, wovor sie gerade Angst haben und was sie sich wünschen. Wie geht es dieser „Jugend ohne Zukunft?“ Eurotopia, eine Extrastaffel:

Teil 1, Estland:

In der ersten Folge spreche ich mit Kaisa. Sie ist 26 Jahre alt und kommt aus Estland. Sie erzählt uns, wie es ist, in einem Land so nah an Russland zu leben und jeden Tag Angst zu haben, dass es der Letzte in Freiheit und Demokratie sein könnte. Die Folge ist auf Englisch, folgend findet ihr ein Transkript.

Folgend findest du eine deutsche, transkribierte Version des Interviews mit Kaisa (Klicke um zu öffnen):

Max: Hallo und herzlich willkommen zu dieser Folge des Podcasts „Jugend ohne Zukunft“. In der ersten Folge darf ich Kaisa willkommen heißen. Kaisa, möchtest du dich vielleicht erstmal vorstellen?

Kaisa: Klar! Mein Name ist Kaisa, ich absolviere gerade sechs Monate Freiwilligenarbeit in Lucca, Italien. Hier unterstütze ich minderjährige Flüchtige bei der Integration. Ursprünglich komme ich aus Estland.

Max: Gefällt dir Estland?

Kaisa: Ist okay …

Max: Was meinst du mit „ist okay“?

Kaisa: Es gibt viele schöne und viele weniger schöne Sachen, die in Estland grad passieren.

Max: Wie ist es, so nah an der russischen Grenze zu leben?

Kaisa: Gerade ist es nicht so schlimm, aber als Krieg in der Ukraine ausgebrochen ist, war es wirklich beängstigend. Am ersten Tag hatte ich wirklich Angst um mein Leben, dass sie kommen und alles wegbomben, dass in zwölf Stunden alles vorbei ist. Etwa ein Jahr lang wurde sich viel auf den Krieg vorbereitet. Es gab Listen an Notfallvorräten, die wir uns unbedingt besorgen sollten, außerdem wurden öffentliche Bunker saniert und gekennzeichnet. Heute solltest du wissen, wo der nächste Bunker ist. Die Regierung bot viele Informationsveranstaltungen an. Es macht wirklich keinen Spaß im Kopf zu haben, dass jederzeit ein Krieg ausbrechen könnte, dass du oder deine Familienmitglieder getötet werden könnten.

Max: Hast du Militärtraining absolviert?

Kaisa: Nein, habe ich nicht, aber viele meiner Familienmitglieder haben es gemacht. Ich kann es noch machen, wenn ich will.

Max: Aber du willst nicht.

Kaisa: Nicht wirklich, ich würde sehr ungern in den Krieg gehen. Vielleicht bin ich ein Feigling, aber ich würde bei einem Krieg lieber in ein anderes Land fliehen. Es gibt auch gute Gründe, warum ich lieber in ein anderes Land gehen würde. Ich habe viele alte oder sehr junge Familienmitglieder, jemand muss diese begleiten. Die meisten meiner erwachsenen Familienmitglieder sind im freiwilligen Militär und würden in den Krieg ziehen.

Max: Hast du heute immer noch Angst?

Kaisa: Nicht mehr so sehr. Die Situation hat sich beruhigt, es sind heute ja auch schon fast drei Jahre, seitdem der Krieg ausgebrochen ist. Es war der 24. Februar, ich weiß es genau, denn es ist der estnische Unabhängigkeitstag. Die Menschen haben heute nicht mehr so große Angst. Ich hoffe, es kommt nicht wirklich zum Krieg, besonders weil wir in der NATO sind.

Max: Was sind deiner Meinung nach die größten Probleme in Estland und der EU gerade?

Kaisa: Definitiv das Erstarken der Rechtsextremen und Faschisten. Viele Menschen rutschen heute stark nach rechts und entfernen sich voneinander, in einer Zeit, in der wir uns eigentlich eher näherkommen sollten, besonders Estland und auch als Europa. Es gibt Menschen von außen, die uns wirklich Böses wollen, aber viele hier in Europa sind damit beschäftigt, einander an die Gurgel zu gehen.

In Estland kommen dann noch hohe Preise und Inflation hinzu. Das wird durch absurde Energiepreise und niedrige Löhne noch verschlimmert. Es gibt nur wenige Arbeitsmöglichkeiten. Die meisten gibt es in Tallinn, der Hauptstadt. Auf dem Land findest du oft keine Anstellung, du kannst allerhöchstens in einem Laden arbeiten, unabhängig von deinem Studium. Deine gute Bildung bringt dir nichts, du kannst nichts ändern und der Lohn ist niedrig, außerdem ist alles sehr teuer. Wenig spaßig. Gerade gibt es noch viel Streit um eine Steuererhöhung. Ich habe nichts gegen Steuern im Allgemeinen, aber diese Reform ist unfair für viele Menschen. Die Armen müssen genauso mehr zahlen wie die Reichen.

Max: Also mangelt es in Europa besonders gerade an Wirtschaft und Zusammenhalt?

Kaisa: Ja, kann man so sagen. Es sollte einfach mehr Gerechtigkeit geben, auch Klassengerechtigkeit.

Max: Hast du Angst vor der Zukunft?

Kaisa: Ja, nicht unbedingt Angst, aber ich fühle eine starke Unsicherheit.

Max: Wovor hast du konkret Angst für Estland und Europa?

Kaisa: Hauptsächlich, dass es schlimmer wird. Dass wir weniger Gerechtigkeit wegen steigendem Rechtsextremismus haben, dass wir Minderheiten diskriminieren, ohne Grund. Zudem habe ich Angst vor mehr Krieg, besonders vor einem großen.

Max: Was hoffst du für die Zukunft?

Kaisa: Ich hoffe, es wird besser. Ich hoffe, wir lösen die Klimakrise, dass wir anfangen, irgendetwas zu tun. Im Globalen Süden ist es jetzt schon zu heiß, um dort zu leben. Das löst mehr Migration aus. Rechte nutzen diese dann, um weiter auszugrenzen und aus Europa hinauszuschicken. Die Menschen haben keine Perspektive, viele sterben. Mir ist es sehr viel lieber, wenn keine Menschen sterben. Ich hoffe, dass es eine Lösung für den Klimawandel gibt. Zwar haben wir Regelungen und Gesetze dagegen, aber die sind nicht gut umgesetzt. Allgemein gibt es zu viele Diskussionen um die Frage, ob wir tatsächlich was tun sollten. Ja, wir sollten was tun, wir haben keine andere Wahl.

Max: Hast du eine Utopie?

Kaisa: Nein, tatsächlich nicht wirklich, eher Wünsche für die Zukunft. Ich denke, es ist einfach schwer für mich, mir eine perfekte Welt vorzustellen.

Max: Wie würde die perfekte Welt für dich persönlich in dreißig oder vierzig Jahren aussehen?

Kaisa: Ääähm, das ist eine schwierige Frage. Hmmm

Max: Glücklich?

Kaisa: Glücklich auf jeden Fall.

Max: Keine finanziellen Probleme und kein Klimawandel? Menschen um dich herum sind auch glücklich?

Kaisa: Ja, wahrscheinlich so.

Max: Also hast du ein bisschen eine Utopie?

Kaisa: Ja, schon, die ist aber nicht so fest definiert.

Max: Was ist mit der Europäischen Union? Ist die Teil deiner besseren Zukunft?

Kaisa: Um ehrlich zu sein, denke ich nicht viel über die EU nach. Alle Möglichkeiten, die die EU mir eröffnet hat, musste ich selbst finden. Niemand hat mir davon erzählt, dass Europa mir Sachen wie den europäischen Solidaritätskorbs biete. Man weiß es einfach nicht. Vielleicht ist es eine Sache junger Menschen in Estland, dass man nicht weiß, was die EU einem bietet.

Max: Deshalb gibt es Podcasts.

Kaisa: Ja! Es gibt einen Podcast!

Max: Deshalb sind wir ja hier. Vielen Dank, dass du dir die Zeit genommen hast. Ich wünsche dir auch für die Zukunft, alles Gute.

Teil 2, Portugal:

In der zweiten Folge spreche ich mit Lara. Sie ist 25, lebt in Portugal, hat Theater und Film studiert und arbeitet als Social Media Manager und Tattoo Artist. Auch diese Folge wurde auf Englisch aufgezeichnet, ein volles Transkript gibt es auf der Website.

Folgend findest du eine deutsche, transkribierte Version des Interviews mit Yara (Klicke um zu öffnen):

Max: Hallo und willkommen. Ich freue mich, heute Yara hier begrüßen zu dürfen.

Yara: Hallo Max, hallo zusammen! Willkommen zum Podcast.

Max: Yara, möchtest du dich zuerst vorstellen?

Yara: Ja, gerne! Mein Name ist Yara Souza. Ich bin 24 Jahre alt und komme aus Portugal. Ich habe Max bei einem Freiwilligenprojekt in der Toskana kennengelernt, und es ist mir eine große Freude, heute hier zu sein.

Max: Fangen wir mit einer Frage zu Portugal an. Wie ist es, in einem Land zu leben, das direkt am Meer liegt, sehr heiß und stark vom Klimawandel betroffen ist – mit vielen Waldbränden? Wie steht es mit der Migration? Wie ist das Leben in Portugal?

Yara: Also, zu den Waldbränden und dem Klimawandel: Ich habe gestern erst mit Freunden darüber gesprochen. Wir haben tatsächlich jeden Sommer ein großes Problem mit Bränden. Das liegt einerseits daran, dass es in Portugal sehr heiß ist, aber vor allem daran, dass wir mittlerweile eigentlich nur noch zwei Jahreszeiten haben: Winter und Sommer. Ich habe Kleidung für die Übergangszeiten, die ich seit Jahren nicht mehr getragen habe – diese Kleidungsstücke, so Übergangsjacken und Regensachen, brauche ich einfach nicht mehr. Denn wir haben Frühling und Herbst quasi verloren. Bis November ist es sommerlich warm, und ab März kann man wieder T-Shirts und Crop-Tops tragen. Von November bis März ist es dann plötzlich richtig kalt, man braucht dicke Pullover. Das ist die größte Veränderung durch den Klimawandel, die ich in Portugal sehe.

Aber die Waldbrände selbst haben nicht unbedingt direkt etwas mit dem Klimawandel zu tun. Das warme und trockene Klima begünstigt die Brände, aber das Hauptproblem ist Brandstiftung. In Portugal gibt es viele Naturschutzgebiete, in denen nicht gebaut werden darf. Wenn diese Gebiete jedoch abbrennen, verlieren sie oft ihren Schutzstatus – und plötzlich darf dort gebaut werden. Da der Immobilienmarkt in Portugal derzeit einer der teuersten in Europa und sogar weltweit ist – unsere Immobilienpreise sind teilweise höher als in den USA, komplett verrückt– gibt es großes will jeder so viel Bauflächen wie möglich. Deshalb werden viele Brände absichtlich gelegt.

Ein weiteres großes Problem ist der Eukalyptus. Portugal ist einer der größten Papierproduzenten in Europa, vielleicht sogar weltweit. Die Papierindustrie braucht Eukalyptus, und deshalb gibt es riesige Eukalyptus-Plantagen im Land. Das Problem dabei ist, dass Eukalyptusbäume extrem leicht brennen – sie sind praktisch Brandbeschleuniger. Außerdem wächst nach einem Feuer auf einer Eukalyptusfläche nichts anderes mehr, weil der Baum dem Boden alle Nährstoffe entzieht. Dadurch breiten sich Brände in Portugal extrem schnell aus.

Max: Ich habe eine Frage dazu. In Australien gibt es ja auch viele Waldbrände, aber dort sind sie ein natürlicher Teil des Ökosystems – Eukalyptusbäume brauchen Feuer, um alte Äste loszuwerden und sich zu erneuern. War das in Portugal früher auch so? Gab es immer Waldbrände, aber nicht in diesem Ausmaß? Oder haben sie erst in den letzten Jahrzehnten zugenommen?

Yara: Es gab schon immer Waldbrände in Portugal, aber nicht in diesen Ausmaßen. Heute haben wir sogar eine spezielle Website, auf der man die aktiven Feuer verfolgen kann. Letztes Jahr gab es riesige Brände in Madeira und in der Serra da Estrela – dem einzigen Ort in Portugal, wo es schneit. Das ist eine große grüne Region, und trotzdem gab es dort ein gewaltiges Feuer.

Der schlimmste Brand der letzten Jahre war in Pedrógão Grande – das Feuer war riesig und hat viele Häuser zerstört, Menschen obdachlos gemacht und sogar Leben gekostet. Seitdem haben wir jedes Jahr große Brände, nicht ganz so extrem, aber immer noch verheerend. Es ist inzwischen normal geworden, dass ganze Dörfer evakuiert werden müssen.

Zum Thema Migration: Ich würde nicht sagen, dass wir eine riesige „Migrationskrise“ haben, aber es gibt definitiv eine starke Zuwanderung. Vor allem reiche Menschen aus Nordeuropa und den USA kommen nach Portugal und treiben die Immobilienpreise in die Höhe. Portugal ist für viele attraktiv, weil es relativ einfach ist, ein Visum zu bekommen, das Land schön ist, die Leute freundlich sind und das Essen gut ist. Aber das führt dazu, dass unser Wohnungsmarkt sich immer mehr auf Touristen und Ausländer konzentriert, während die einheimische Bevölkerung kaum noch bezahlbaren Wohnraum findet. Das ist eines der größten Probleme in Portugal.

Max: Apropos Probleme – welche anderen Herausforderungen gibt es in Portugal? Und welche siehst du in Europa allgemein?

Yara: Ich denke, eines der größten Probleme ist mangelnde Bildung und Rücksicht. Viele Menschen wissen zu wenig über Geschichte, Politik und gesellschaftliche Themen. Das führt dazu, dass sich Desinformation und Hassbotschaften immer weiter verbreiten. Ich sehe das als ein weltweites Problem, nicht nur in Europa.

In Portugal ist die Lebensqualität ein großes Thema. Viele Menschen können sich das Leben hier nicht mehr leisten. Es gibt Menschen, die Vollzeit arbeiten, die obdachlos sind, weil sie sich keine Wohnung leisten können. Vermieter werfen langjährige Mieter aus ihren Wohnungen, um an Touristen oder wohlhabende Ausländer zu vermieten, die viel mehr zahlen können. Und unsere Regierung tut nichts, um uns zu schützen. Ich weiß, dass das auch in anderen europäischen Ländern passiert, aber in Portugal ist es besonders extrem.

Max: Hast du Angst vor der Zukunft?

Yara: Ein bisschen, ja. Ich schwanke zwischen Optimismus und Pessimismus. Für mich persönlich mache ich mir weniger Sorgen – ich glaube, dass sich in den nächsten 50 Jahren viel verändern wird, aber ich hoffe, dass ich dann nicht mehr da bin, wenn es richtig schlimm wird.

Was mir aber wirklich Angst macht, ist die zunehmende Spaltung der Gesellschaft. Überall sehe ich, wie Menschen gegeneinander aufgehetzt werden, anstatt sich gemeinsam gegen ungerechte Regierungen zu stellen. In Barcelona zum Beispiel haben Einheimische Touristen mit Wasserpistolen beschossen und sie in Cafés beschimpft. Aber das Problem sind nicht die Touristen – das Problem ist die Regierung, die nichts tut, um die Einheimischen zu schützen. Dasselbe gilt für die Wut auf Migranten. Diese Wut sollte sich gegen diejenigen richten, die das System unfair machen, nicht gegen andere Menschen, die nur versuchen zu überleben.

Max: Was wünschst du dir für die Zukunft – für Europa und für dich selbst?

Yara: Am meisten wünsche ich mir Frieden und Liebe. Ich hoffe, dass wir in einer Welt leben können, in der jeder die gleichen Chancen hat, sicher ist und ein gutes Leben führen kann – unabhängig von Geschlecht, Herkunft oder sexueller Orientierung. Wie du weißt, bin ich Kommunistin, also wünsche ich mir besonders Gerechtigkeit. Eine Welt, in der jeder gleiche Chancen hat und es allen gleich gut geht. In der jeder seine Community hat, halt einen Anarcho-Kommunismus.

Max: Und wenn wir realistisch sind – siehst du die EU als einen Schritt in die richtige Richtung?

Yara: Ich bin der EU sehr dankbar für die Möglichkeiten, die sie uns gibt – ohne sie hätte ich dich nicht kennengelernt. Aber ich denke, die EU müsste noch stärker zusammenwachsen. Eine einheitliche europäische Mindestlohnregelung wäre zum Beispiel wichtig. Die Idee der EU ist gut, aber sie muss noch gerechter und einheitlicher werden.

Max: Wunderbar, vielen Dank das du hier warst, es war mir eine Freude mit dir zu sprechen.

Teil 3, Deutschland

Gast der letzten Folge ist Benni, er ist 20 und studiert Informatik. Viel Spaß bei einem Gespräch über Hoffnung, Optimismus und Zuversicht…


Music by Maksym Dudchyk @ Pixabay