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„Ich fühle mich als Wegbegleiter“ – Die Rolle von Dolmetschern im Europäischen Parlament

Eine heute in Europa unvorstellbare Welt: Zwei Stunden Fernsehprogramm pro Tag, Verbot von Verhütungsmitteln, Verfolgung und Folter der Regierungskritiker, Totalitarismus nach dem Vorbild Stalins. Wer heute jünger als 35 Jahre alt und in Deutschland aufgewachsen ist, hat das nie erlebt. Doch bis 1989 war genau das Lebensrealität in Rumänien.

Ute Pauna, 46 Jahre alt, hat diese Diktatur als Kind miterlebt. Seitdem hat sich vieles verändert: Rumänien gilt heute als Demokratie und ist seit 2007 Teil der Europäischen Union. Ute ist erwachsen geworden und arbeitet seit dem Beitritt Rumäniens für die Europäische Union. Ihr Arbeitsplatz: Das Europäische Parlament.

Das Gebäude in Brüssel, in dem das Parlament die Hälfte der Sitzungswochen tagt, begrüßt seine Besucher mit großen Plakaten, die für die anstehenden EU-Wahlen werben. „Nutze deine Stimme“ verkünden blaue Banner. Doch hier, wo einige der wichtigsten Entscheidungen Europas getroffen werden, muss niemandem die Bedeutung politischer Partizipation klar gemacht werden. Das Europäische Parlament ist das einzige Organ der EU, das aus direkt gewählten Volksvertretern besteht und weltweit die einzig direkt gewählte überstaatliche Institution. Seine Aufgaben sind kurzgefasst die Mitarbeit an der Gesetzgebung, am Haushalt und die Kontrolle anderer EU-Institutionen.

Im Inneren des imposanten Gebäudes ist es geschäftig, aber freundlich. Durch die großen Glasfronten blickt man auf das Haus der europäischen Geschichte und die Häuser Brüssels. Hier treffen viele verschiedene Menschen aufeinander: Abgeordnete, Journalisten in Anzug oder T-Shirt, Handwerker in Arbeitskleidung mit klirrenden Schlüsseln, Gastronomieangestellte in Westen, Kameratechniker, die ihr Equipment aufbauen. Wer nicht im Cafeteriabereich sitzt, geht zielstrebig seines Weges. Zwischen großen Säulen sieht man müde Gesichter und hört aufgeweckte Gespräche.

Durch die Räume klingt Französisch mit englischem Akzent, Englisch mit französischem Akzent, Deutsch, Niederländisch, Polnisch, Spanisch, Italienisch, Bulgarisch. Zwei Reporter begrüßen sich in britischem Englisch. „I’ve made it here once again, despite Brexit!“ Um einen Tisch sitzt eine Gruppe, die sich angeregt auf Französisch unterhält. Jemand ruft Anweisungen auf Spanisch. Zwei Journalisten besprechen sich leise auf Niederländisch. „De volgende stap is …“ „Miło cię znowu widzieć!“ „Ce mai faci?“ „Cuánto tiempo sin vernos!“ Es treffen hier nicht nur viele Menschen, sondern auch viele Sprachen aufeinander.

Die Europäische Union als Staatenbund vereint momentan 27 Mitgliedstaaten und fast so viele Amtssprachen. Damit sich die Politikmachenden trotz dieser Sprachenvielfalt verständigen können, braucht es Dolmetscher.

Ute ist eine von ihnen. In Rumänien geboren und mit Deutsch als Muttersprache aufgewachsen dolmetscht sie heute im Europäischen Parlament Englisch, Französisch, Spanisch, Niederländisch und Rumänisch ins Deutsche. Ihr Arbeitsplatz ist eine der Dolmetscherkabinen, die sich am Rand des Plenarsaals des Parlaments befinden.

Die Kabinen sind schlicht gehalten. Ein paar Stühle blicken durch große Fenster auf die Tischreihen des Plenarsaals. Davor liegen auf einem langen Tisch Kabelkopfhörer und Mikros, die direkt mit den Headsets im Saal verbunden sind. Als Ute sich setzt, packt sie außerdem ihren Laptop, ihr Notizbuch und einen roten Kugelschreiber aus, der zu ihrer roten Hose und dem großen roten Ring an ihrer linken Hand passt. Man sieht ihren Bewegungen an, dass sie hier schon tausendmal saß. Lebhaft erzählt sie von Ihrem Arbeitsalltag.

Ihre Arbeit beschränkt sich nicht auf diese Kabinen. Es gehört auch eine Menge Vor- und Nachbereitung dazu. Vor jeder Sitzung müssen die Dolmetscher die Tagesordnung analysieren und mögliche Wissenslücken auffüllen. Dafür können laut Ute zwei Minuten ausreichen, wenn aus Allgemeinbildung oder vorangegangener Vorbereitungsarbeit bereits genügend Wissen vorhanden ist. Manchmal ist es aber auch nötig, ganze Bücher oder die Sitzungsunterlagen des Parlaments genau zu lesen.

In den Kabinen vermitteln Dolmetscher dann zwischen Menschen. Das sei das Spannende, so Ute. „Es ist das Menschliche, das Zwischenmenschliche. Wir sind tatsächlich zwischen Menschen.“ Ihre Aufgabe ist es, das Gesagte in einer Sprache, die der Zuhörer nicht versteht, aufzunehmen und dann in der Sprache des Zuhörers wiederzugeben. Und das möglichst flüssig. Ute beschreibt diesen Prozess als „Übertragen“. Mit ihren Händen verdeutlicht sie ihre Worte. Sie greift in die Luft, als würde sie etwas packen und führt ihre Faust durch die Luft, lässt das Gegriffene wieder los. „Wir tragen von dem einen zum anderen.“

Das mag einfach klingen, doch es geht hier nicht um ein stupides Übersetzen der einzelnen Wörter. Beim Dolmetschen, für das es bestimmte und sprachenspezifische Techniken gibt, müssen Dolmetscher sowohl zuhörerorientiert als auch rednergetreu bleiben. Das sei immer ein Drahtseilakt, so Ute.„Wir sind die Brücke. Und zwar nicht für die einzelnen Worte, sondern für die Redeabsicht, für die Botschaft, die der Redner in seine Worte packt.“In anderen Sprachen heißt der Beruf auch „interpreter“ oder „interprète“ – Dolmetscher müssen gewissermaßen interpretieren und abwägen, was der Zuhörer versteht, wie man ihm das Gesagte nahebringt, ohne ihn zu verlieren. Gleichzeitig müssen sie wahrheitsgetreu wiedergeben, was der Redner im Kern ausdrücken will. Dabei müssen sie immer sowohl Nähe als auch Distanz wahren. Nähe, um den Redner zu verstehen; Distanz, um das Gesagte objektiv zu übermitteln.

Das kann eine Herausforderung sein. Ute berichtet von einer Situation, in der ein Redner erzählt, wie er als Kind mitangesehen hat, wie sein Vater von Terroristen erschossen wurde. Man merkt ihr ihre Betroffenheit an, mehrmals versucht sie die richtigen Worte zu finden.

Doch dann spricht sie ruhig weiter: „Natürlich bin ich dann auch traurig, aber mein Schmerz ist etwas, was ich woanders verarbeiten muss. Nicht in der Stimme. Hier neutral bleiben heißt, dass man diese Empathie mit dem Redner zwar empfindet und nachempfindet, aber dass sie nicht meine Empathie wird. Da eine gewisse Distanz zu wahren, das ist möglich. Es ist sogar notwendig, sonst kann ich nicht arbeiten. Und es wäre auch nicht fair. Dem Redner und dem Zuhörer gegenüber wäre es nicht fair, wenn ich mich selbst zeige und einbringe und da irgendwas zurechtrücke.“

Das gilt auch für Situationen, in denen die persönliche Meinung nicht mit der des Redners übereinstimmt oder der Redner Falschinformationen verbreitet. Dolmetscher müssen trotzdem neutral bleiben und sich selbst nicht in den Vordergrund stellen.

„Jeder Abgeordnete hat gleiche Rechte. Sie alle haben das Recht auf freie Ausübung ihres Mandates, dazu gehört auch Anspruch auf Verdolmetschung. Wir sind in der Demokratie. Und dann dienen wir der Institution, auch Menschen, die die Werte vielleicht nicht teilen, vielleicht nur zum Teil teilen. Das sind die Spielregeln. Wir stellen uns in den Dienst der Institutionen, und wenn hier im Hause Abgeordnete gewählt sind, dann sind sie gewählt.“

Dolmetscher befinden sich immer im Hintergrund, in den Kabinen am Rande des Saales. Doch ohne sie funktioniert die Kommunikation hier nicht. Sind Dolmetscher nicht ähnlich wie früher Dienstboten in den Häusern der Reichen? „Einer Sache dienen heißt nicht unbedingt, andere nur bedienen. Einer großen Sache sich zur Verfügung stellen – so könnte man es eher sagen.“

Auf die Frage hin, was diese große Sache, was Europa für sie bedeute, antwortet Ute etwas zögerlich, dann mit fester Stimme: „Freiheit und Frieden.“ Sie lacht leicht. „Das klingt vielleicht etwas abgedroschen.“

Aber sie fährt selbstbewusst fort, wählt ihre Worte präzise. Ihr Blick ist in die Ferne gerichtet, ihre Augen plötzlich feucht. Sie erzählt von ihrer Kindheit im diktatorischen Rumänien.

„Als ich sechs Jahre alt war, kamen die Securitate und ich musste eine Schriftprobe abgeben. Als Sechsjährige. Ich konnte noch nicht mal alles schreiben, aber es gab wohl eine regimekritische Postkarte. Und dann kamen tatsächlich Sicherheitsbeamte, wahrscheinlich war es die Securitate, und jeder musste eine Schriftprobe abgeben, die Eltern, alle Kinder, auch ich als Sechsjährige. Und wenn man das erlebt hat, Situationen, wo solche staatliche Willkür jederzeit passieren kann, und man weiß nicht, wie sie endet und wo sie endet und ob sie endet. Mit diesem Gefühl leben wir in Europa in Frieden und in Freiheit.“

Die Securitate agierte in der Zeit der Sozialistischen Republik Rumänien zugleich als Nachrichtendienst und als Geheimpolizei. Sie war eines der wichtigsten Instrumente des Diktators Nicolae Ceaușesc, um seine Macht zu erhalten. Erst in den Neunzigern nach den Demonstrationen, Unruhen und Kämpfen der Rumänischen Revolution 1989 und der Hinrichtung Ceaușescus wurde die Securitate aufgelöst. Bis heute sind ihre Machenschaften nicht vollständig aufgearbeitet.

Nach Ende des Ceaușescu-Regimes folgten eine Verbesserung der Menschenrechte, Freilassung der politisch Gefangenen, offene Grenzen und eine Aufhebung der strengsten Gesetze, wie des Abtreibungsverbots. Die Demokratisierung und Wirtschaftsreformen schritten nur langsam voran, da ehemalige Führungspersonen weiterhin Machtpositionen inne behielten. Bis heute ist das Land von häufigen Regierungswechseln und politscher Instabilität geprägt. Im Jahr 2007, achtzehn Jahre nach dem Sturz des Ceaușescu-Regimes, trat Rumänien der Europäischen Union bei.

Für Ute, die von Beginn an rumänische Beiträge gedolmetscht hat, hat dieser Schritt große Bedeutung. Dolmetscher übertragen, schlagen Brücken, vermitteln zwischen Rednern und Zuhörern, zwischen Menschen und manchmal auch zwischen ganzen Ländern: „Es freut mich sehr, mein Herkunftsland Rumänien hier in den ersten Schritten begleitet zu haben. Auch wenn natürlich im Hintergrund und in einer ganz begrenzten Rolle, nicht als Gestalter dieses Weges. Aber ich habe da ein bisschen mitgetragen und mitgeholfen. Und ja, ich fühlte mich ein bisschen als Wegbegleiter.“