In seinem Roman „Nicht von dieser Welt“ erzählt Michael Ebert vom dreizehnjährigen Mischa, der nach dem Tod seines Vaters mit seiner Mutter in eine Wohnung im Krankenhaus zieht. Hier erreichen ihn plötzlich seltsame Anrufe: Tote, die ihren letzten Wunsch an ihn weitergeben. Es beginnt eine abenteuerliche, teilweise außerweltliche Reise durch das Deutschland kurz nach der Wende. Der Autor ist wie sein Protagonist in einem Krankenhaus in einem kleinen Ort in Baden-Württemberg aufgewachsen, wo er bereits als Jugendlicher für die Lokalberichterstattung schrieb. Heute ist er Chefredakteur des SZ-Magazins. Man trifft sich in seinem Büro im SZ-Turm im Osten Münchens, mit Blick über den Ostbahnhof.
REDAK: Du hast im vergangenen Jahr den nächsten Schritt gewagt und deinen ersten Roman veröffentlicht. Was hat dich dazu getrieben?
Michael Ebert: Ich würde es nicht den „nächsten Schritt“ nennen. Das klingt so, als würde ich mich mit dem literarischen Schreiben vom Journalismus verabschieden wollen. Aber das ist nicht der Fall. Solange es mir gelingt, beides unter einen Hut zu kriegen, freue ich mich. Der Grund, einen Roman zu schreiben, war ein trauriger. Mein Vater war im Jahr zuvor gestorben und ich hatte ihn sehr geliebt. Zu Schreiben war also erstmal therapeutisches Arbeiten, ausschließlich nachts, das sich irgendwann verselbstständigt hat. Das Buch ist am Schluss eine Geschichte über Trauer und Trauerverarbeitung geworden.
Ein Satz, den du immer wieder erwähnst, ist: „Trauer ist Liebe ohne Zuhause.“ Was genau meinst du damit?
Trauer ist ein unterschätztes Gefühl. Im besten Fall muss man sich relativ lange überhaupt nicht mit ihr beschäftigen, weil man in jungen Jahren üblicherweise wenig Todesfälle im Familien- oder Freundeskreis zu verarbeiten hat. Mit der Zeit werden es aber leider immer mehr und wir sehen uns mit einem Mal mit einem der mächtigsten Gefühle konfrontiert, die existieren. Ich musste für mich klären, was Trauer eigentlich ist, und wie man mit ihr umgeht. Sie fühlt sich anders an als die Sehnsucht. Nah dran, aber doch anders – Trauer ist eine Sehnsucht, die du nie mehr befriedigen kannst. Trauer ist Liebe für jemanden, den es nicht mehr gibt. Die Liebe ist weiterhin da – das ist ja das Schlimme! –, aber sie kann nirgends mehr hin. Deshalb ist Trauer für mich wie Liebe ohne Zuhause.
Dein Buch trägt den Titel „Nicht von dieser Welt“. Wer oder was ist in dem Roman nicht von dieser Welt?
Auch meine Hauptfigur in dem Roman, der dreizehnjährige Mischa, hat seinen Vater verloren – und das Gefühl, das er spürt, die Trauer, mit der er noch nicht umgehen kann, kommt ihm vor wie nicht von dieser Welt. Und es gibt auch ein fantastisches, außerweltliches Element in dem Buch. Mischa kriegt Telefonanrufe von Verstorbenen aus dem Krankenhaus, in dem er wohnt.
Was war zuerst da? Der Gedanke, dass du ein Symbol für die Trauer brauchst? Oder war zuerst die Idee von den Anrufen, von dem Abenteuer da und dann hat sich daraus ergeben, welche Rolle das in der Entwicklung der Geschichte spielt?
Ich wusste, dass ich von Mischas Leben im Krankenhaus erzählen will. Und ich wusste, dass ihm ein älteres Mädchen zur Seite springt. Ich wusste, dass sie gemeinsam eine Reise nach Halberstadt in der damaligen DDR unternehmen werden. Alles, was von da an in dem Buch passiert, hat sich beim Schreiben entwickelt – etwa der Gedanke, dass die Toten, die ihn anrufen, nicht plötzlich gute Menschen werden, nur weil sie gestorben sind. Die Motive, die sie verfolgen, wenn sie Mischa Aufträge geben, können durchaus auch negativ sein, und damit muss er umzugehen lernen.

Du hast ein Buch über einen Dreizehnjährigen geschrieben, dessen Lebensumstände deinen eigenen sehr ähneln. Würdest du sagen, du hängst noch an deiner Kindheit?
Nein, ich hänge nicht an meiner Kindheit. Aber sie ist ein wichtiger Teil meines Lebens. Mich nochmal damit zu beschäftigen, unter welchen Umständen ich aufgewachsen bin und unter welchen schwierigen Umständen meine Eltern es geschafft haben, meine Schwester und mich durchzubringen, war sehr lehrreich. Wir hatten sehr wenig Geld – meine Mutter war Krankenschwester, mein Vater ein unglücklicher und deshalb erfolgloser Versicherungskaufmann. Im Nachhinein finde ich es sehr erstaunlich, dass wir zwar bei Vielem totalen Mangel hatten, mir dieser Mangel, diese Armut im Alltag aber nur ganz selten gegenwärtig wurde. Die Anstrengungen meiner Eltern, uns nicht spüren zu lassen, wie wenig Geld da war, waren wirklich bewundernswert. Wie hart sie gearbeitet haben, um uns von den echt großen Problemen fernzuhalten, war mir nicht klar, ehe ich es aufgeschrieben hatte.
Also, wie du sagst, sehr therapeutisch. Du bist wie der Protagonist Mischa in deinem Roman in einem Krankenhaus aufgewachsen. Wie hast du das als Kind empfunden?
Wir mussten aus unserer Wohnung ausziehen – und das Angebot, in die Hausmeisterwohnung des Krankenhauses in unserer Stadt einzuziehen, war tatsächlich sowas wie ein Rettungsanker. Meine Eltern wussten, dass sie die günstige Miete bezahlen können, Wasser und Heizung waren inkludiert. Und für mich war es eher aufregend als unheimlich. Ich hatte in der Schule was zu erzählen und Freunde kamen gerne zu Besuch.
Und dennoch warst du, zumindest ist das Mischa in deinem Buch, täglich mit dem Tod konfrontiert.
Der Roman ist autofiktional. Nicht alles, was Mischa durchmacht, habe ich auch so erlebt. Tatsächlich habe ich meine Mutter, die auf der Intensivstation gearbeitet hat, oft besucht. Aber sie hat immer darauf geachtet, dass ich genügend Abstand von ihrem Arbeitsalltag halten kann. Wenn überhaupt, habe ich es ihrem Gesicht oder ihrer Kleidung angesehen, dass sie einen harten Tag auf Station hinter sich hatte.
Trotzdem webst du viel Autobiografisches und Persönliches in deine Texte ein, nicht nur in deinem Buch. Würdest du sagen, es ist nötig, etwas von sich preiszugeben, um gut zu schreiben?
Im literarischen Schreiben gibt man immer etwas preis, selbst, wenn man es nicht will, und das ist auch gut und notwendig. Im journalistischen Schreiben braucht es das überhaupt nicht. Da ist eine Ich-Erzählung nur eine Textform neben vielen anderen. Es gibt zahllose ausgezeichnete Reportagen, in denen die Reporterin oder der Reporter als Figuren nichts verloren haben. Natürlich ist man als Journalistin oder Journalist anwesend, man berichtet, was man gesehen und erlebt hat. Aber die Aufgabe ist es, von sich selbst zurückzutreten und zu beschreiben, was ist, anstatt zu beschreiben, was man fühlt.

Jetzt hast du ein Buch veröffentlicht, das vielleicht nicht allen, aber in vielen Aspekten zeigt, wer du bist und was du erlebt hast. Wie ist das für dich, das so in der Öffentlichkeit zu wissen?
Ich habe meinen ersten Roman ohne das Ziel geschrieben, ihn auch zu veröffentlichen. Es gab einen Moment, da habe ich zum ersten Mal außerhalb meines Familien- oder Freundeskreises laut daraus vorgelesen. In diesem Moment dachte ich: Ha, hoppla, hoffentlich hast du die Wirkung auf dich selbst nicht unterschätzt. Aber dann waren die Reaktionen so positiv und so schön. Das ist es wert, dass man etwas von sich zeigt. Unddie Autofiktion ist nicht zuletzt ein guter Schutzschild. Außer mir weiß niemand, welche Teile des Romans meine eigene Geschichte sind und was nur Mischas Geschichte ist.
Hättest du dir als Kind auch so eine große Schatzsuche gewünscht, wie es sie im Roman gibt? Ein Abenteuer, das vielleicht auch befreiend ist?
Ich hatte keine unglückliche Kindheit, aus der ich hätte befreit werden müssen. Im Gegenteil, ich hatte es schön. Ich habe gerne in dem Krankenhaus gewohnt, ich habe gerne in dem kleinen Städtchen gewohnt und ich habe die Sicherheit, die sich da geboten hat, genossen. Es war auch keine Flucht, als ich weggezogen bin. Es war eher die Lust, die Welt zu sehen. Ich wollte auch immer schon Journalist werden. Mit vierzehn Jahren habe ich schon Zeitungen ausgetragen, weil mich das Medium Zeitung so fasziniert hat. Mit sechzehn habe ich angefangen zu schreiben, für den Lokalteil der Schwäbischen Zeitung. Mir war immer klar, dass ich genau das machen möchte: Journalismus. Die Möglichkeiten, die der Beruf bietet, die Abenteuer, die man erleben kann, finde ich fantastisch.
Was war dein größtes Abenteuer im Journalismus bisher?
Ach. Ich habe bislang jede Station geliebt. Das Volontariat, die Zeit als Redakteur beim stern in Hamburg, als Redaktionsleiter bei jetzt, als es das gedruckte Magazin noch gab. Danach das Monatsmagazin NEON zu gründen, war ein Riesenabenteuer. Eine wahnsinnig tolle Erfahrung, über zehn Jahre hinweg: Sich eine neue, ganz eigene Zeitschrift auszudenken und zu sehen, dass sie wirklich viele Leute interessiert und berührt, die Website dazu zu bauen, in die Interaktion mit den Leserinnen und Lesern – das war schon super. Ich bin aber jetzt auch sehr glücklich als Chefredakteur des SZ-Magazins, immerhin auch schon zwölf Jahre lang.
Und was war beim Schreiben deine größte Herausforderung?
Das Schreiben ist immer wieder eine Herausforderung. In der Regionalzeitung, für die ich mit sechzehn, siebzehn gearbeitet habe, hatte ich die Idee, eine Geschichte über Ladendiebstahl zu machen. Ich habe einen komplizierten Brief aufgesetzt, an die Einzelhändler im Ort verschickt und gesagt: „In nächster Zeit kommt einer und klaut bei euch was. Er bringt es dann auch wieder zurück, aber er will eine Geschichte darüber schreiben.“ Das fand ich damals wahnsinnig aufregend. Und seither gibt es – bis hin zu einem Bruce-Springsteen-Interview für das SZ-Magazin vor ein paar Wochen – immer wieder journalistische Erlebnisse, bei denen ich denke: Was für ein toller Beruf! Wie großartig, dass du solche Sachen erleben kannst! Es ist lustig, dass mir als erstes eine Geschichte über Ladendiebstahl für die Lokalzeitung in den Sinn kam. Vielleicht, weil es für mich inzwischen ebenso eine Freude ist, eine besondere Idee zu entwickeln wie selbst zu schreiben. Das Schöne an meinem Beruf: Die Herausforderungen hören nie auf. Unter Zeitdruck Titelgeschichten für den stern zu schreiben war aufregend. Interviews für NEON zu führen war es auch. Seite-Drei-Reportagen für die Süddeutsche Zeitung oder Titelgeschichten für das SZ-Magazin sind es auch … immer kommt irgendwas, das einem volle Konzentration und Sorgfalt abverlangt. Ich schreibe tatsächlich nur noch selten, weil meine Aufgabe beim SZ-Magazin eine andere ist. Aber macht nichts. Es sind erstens Leute hier, die besser schreiben können als ich – und zu redigieren, zu planen, zu beauftragen macht auch Spaß.

Aber du hast ja trotzdem einen sehr eigenen Stil und auch persönlichen Stil.
Wie meinst du das?
Ich finde, du hast als Autor ein paar Merkmale, die dich auszeichnen. In deinem Buch und auch in den persönlichen Artikeln – zum Beispiel als du das Krankenhaus nochmal besucht hast oder die Kirschengeschichte mit deinem Vater – hast du viele Szenenbeschreibungen und dann wird es ein bisschen philosophierend und dann wieder konkret. Da sieht man einen Stil, der sich durchzieht. Würdest du das nicht sagen?
Interessant, dass du eine Vergleichbarkeit zwischen dem literarischen und dem journalistischen Schreiben siehst. Ich halte das für ganz unterschiedliche Dinge. Vielleicht sind Ähnlichkeiten in deinen Beispielen aber auch der Form geschuldet, weil du Essays und Ich-Geschichten aufgezählt hast. Da stimmt es wahrscheinlich: Das mache ich in den Büchern ebenso.
Und ist dieser Stil mit der Zeit entstanden oder hast du ihn trainiert?
Wahrscheinlich beides. Ich bin neulich über einen frühen Text von mir gestolpert, der vor über zwanzig Jahren auf der Medienseite der SZ erschienen ist. Den fand ich nicht besonders gut. Da dachte ich: Erstaunlich, du bist schon besser geworden. Wahrscheinlich vor allem durchs Machen. Gar nicht im Sinn von selbst schreiben, sondern auch durch die Beschäftigung mit Texten, das Redigieren, das Lesen.
Gibt es Autoren oder Werke, die dich besonders beeinflusst haben?
Ich liebe Jurek Becker.
Warum?
Weil er so ein großes Herz hat. Und weil er so lustig-schlau schreibt – oder geschrieben hat, er ist ja leider gestorben. Es dauert immer nur drei Sätze lang, bis ich eine Figur liebe, die er mir vorsetzt. Als Stilist, als Mensch, als ideenreicher, vielseitiger, warmherziger Autor ist er ein großes Vorbild.
Wie gehst du mit Kritik um?
Journalistisch kann ich damit total gut umgehen. Ich kriege viele Leserbriefe, die nicht alle freundlich sind. Und ich versuche, sie alle zu beantworten – vor allem, wenn sie kritisch sind. Fast immer kann ich von den Briefen und durch meine Antwort auf sie etwas lernen. Ich sehe mich in der Pflicht, mich als Journalist, als Dienstleister, ständig zu hinterfragen. Warum hat der Leser oder die Leserin unseren Text jetzt scheinbar falsch verstanden? Oder ist die Kritik sogar gerechtfertigt? Ich nehme kritische Leserinnen- und Leserpost sehr ernst und kann sie gut annehmen. Beim literarischen Schreiben fasst sie mich schon härter an. Aber erstens bin ich auf dem Gebiet noch Anfänger, und zweitens bin ich überzeugt davon, dass man als künstlerisch arbeitender Mensch lernen muss, sich frei von der Meinung anderer zu machen – von Lob ebenso wie von Kritik. Mach dein Ding, so gut du kannst. Wenn es fertig ist, zeig es her. Was die Leute dann damit machen, ist außerhalb deines Einflussbereiches.
Es braucht aber auch eine gute Portion emotionale Intelligenz, um die Kritik anzunehmen oder auch nicht an sich ranzulassen.
Kommt darauf an. Als Schriftsteller kann ich es mir erlauben, Distanz zur Meinung anderer zu halten. Als Journalist sollte ich die Meinung anderer immer wahr- und ernstnehmen. Du merkst, ich muss wirklich hin- und herzuspringen. Journalismus ist eine Dienstleistung. Literarisches Schreiben ist ein künstlerischer Ausdruck. Es gelten unterschiedliche Regeln.
Wenn wir jetzt nochmal zum Journalismus kommen: Es ist kein Geheimnis, dass der Journalismus in der Krise steckt, im Print gehen die Abos zurück.
Ja, Print-Abos sind fast überall rückläufig. Aber ich sehe keine Krise, ich sehe Herausforderungen und Chancen. Die Branche muss ihr Geschäftsmodell komplett umkrempeln, das gelingt vielen Publikationen sehr gut. Die Süddeutsche Zeitung zum Beispiel hat heute mehr Leserinnen und Leser als jemals zuvor. Da sind neben immer noch sehr vielen Printabonnentinnen und -abonnenten auch hunderttausende Menschen, die sagen: „Ich bezahle Geld dafür, die SZ und das SZ-Magazin digital zu lesen.“ Die journalistische Arbeit, die die Redaktion der Süddeutschen und des Magazins leisten, die auch die Zeit leistet, der Tagesspiegel in Berlin, die Badische Zeitung in Freiburg, der Spiegel, die auch der öffentliche Rundfunk leistet – ich bin jeden Tag aufs Neue begeistert von der Vielfalt und der Qualität. Das journalistische Angebot ist heute Welten besser als vor fünfzig, sechzig Jahren. Schneller. Genauer. Diverser. (Steht auf und holt einen Stapel Magazine.) Hier – Stern-Ausgaben von 1971, unglaublich seitenstarke Magazine aus der angeblich goldenen Zeit des Printjournalismus. Ich behaupte: Was heute vergleichbar produziert wird, ist gehaltvoller, objektiver, klüger als damals – einfach besser als Produkt. Die digitalen Möglichkeiten erweitern unseren Beruf unendlich. Statt warten zu müssen, bis eine Meldung recherchiert, aufgeschrieben, redigiert, gesetzt, gedruckt, verladen, verschickt und von einem Austräger morgens vor meine Wohnungstür gelegt wird, können wir Ereignisse über Liveticker verfolgen und die kenntnisreichen Analysen schon bald darauf lesen. Also, ich bin nicht in Sorge. Ich bin voller Begeisterung über die Möglichkeiten, die sich bieten.
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