Autorin sitzt auf einer Couch und guckt frontal in die Kamera. Im Hintergrund sieht man ein Bücherrregal.

Zwischen Belletristik und TikTok – die junge Generation im Medienwandel

Mir reicht’s. Wir müssen reden. Die 78-jährige Schriftstellerin Elke Heidenreich hat uns in ihrem heiß diskutierten Auftritt bei Markus Lanz am 12. Oktober 2021 als die Generation, die nicht mehr liest und unfähig ist, mit Worten umzugehen, bezeichnet. Cringe, Elke.

Mit die Generation ist hier die Generation Z gemeint. Wer diese Generation ist, ist nicht streng geregelt, meint in der Regel aber all die, die um die Jahrtausendwende geboren sind. Von dieser pauschalen Aussage fühle ich (Jahrgang 2000) mich überhaupt nicht angesprochen. Ich liebe Literatur. Was mit Harry Potter begann schwankte jüngst in die Sphären der Popliteratur à la Benjamin von Stuckrad-Barre über. Ich habe sogar Holzfällen von Thomas Bernhard 18-mal frustriert zur Seite gelegt, es 19-mal wieder in die Hand genommen – und am Ende geliebt.

Quelle: Tenor

Bin ich die Ausnahme, die die Regel bestätigt? Und sollten wir nicht viel lieber darüber reden, warum wir lesen sollten, statt sich darüber zu beschweren, dass wir es (anscheinend) nicht tun?

Der Vorwurf hat einen wahren Kern: Der medienpädagogische Forschungsverbund Südwest (mpfs) untersucht in seiner Studie Jugend, Information, Medien (JIM) seit über zwanzig Jahren das Medienverhalten Jugendlicher zwischen 12 und 19 Jahren in Deutschland. Schaut man sich die Ergebnisse der Studie aus dem Jahr 2021 an, ist ein Rückgang im Bereich „Bücher und Lesen“ zu erkennen.  Nur 32% der 1.200 Befragten lesen mehrmals in der Woche in ihrer Freizeit, der tiefste Wert seit 2009. Zum Vergleich: Im Jahr 2018 waren es noch 40% aller Befragten, 2011 sogar 44%.

Woran liegt das? Nun, eine einfache Antwort gibt es darauf nicht. Ob man liest oder nicht, hängt von verschiedenen Faktoren ab. Es gibt Menschen, die aufgrund ihres sozioökonomischen Status, wie der formalen Bildung oder finanziellen Situation, keinen vergleichbaren Zugang zu Literatur haben. Laut der JIM Studie 2021 sind die meisten Leser unter den Gymnasiasten zu finden. Sie machen in der Befragung 39% derer aus, die angeben regelmäßig zu lesen. Bei Jugendlichen mit einer niedrigeren Bildung sind es nur 23%. Die Ergebnisse zeigen auch, dass die Zahl der regelmäßigen Leser insgesamt sinkt, während die der Nichtleser steigt.

Ist Lesen also etwas für elitär Gebildete?

Der Publizist Gerhard Falschlehner beschreibt in seinem Buch „Die Digitale Generation: Jugendliche lesen anders“, dass Lesen früher nur einer Elite vorbehalten war. In abgeschwächter Form lässt sich das auch heute noch beobachten, wenn wir die oben genannten Zahlen betrachten. Falschlehner beschreibt, dass andere Medien wie der Rundfunk aufgrund ihrer einfacheren Zugänglichkeit „demokratischer“ sind. Das spiegelt sich auch in der JIM-Studie wider, die zeigt, dass in so gut wie jedem Haushalt Fernsehen, Radio und Internetzugang vorhanden sind. Wie der Untertitel seines Buches verrät, ist es so, dass junge Menschen nicht unbedingt weniger lesen, sondern lediglich anders: in sozialen Medien, in Videospielen und so weiter.

Lesen ist also deutlich vielseitiger geworden und geht über das romantische Bild des verträumten Roman-Lesers im Park an einem sonnigen Nachmittag hinaus.

Trotz übergreifendem Medienangebot scheint Lesen aber nicht als uncool oder altmodisch zu gelten. Ich würde gerne mehr lesen, aber… ist ein Satz, den ich oft von Menschen aus meinem studentischen Umfeld höre und ja, auch ich gehör(t)e dazu. Die Motivation zu Lesen scheint also da zu sein, wodurch wird sie aber gehemmt?

Aus meiner privilegierten Perspektive des städtischen Mittelschicht-Girls (das durchaus gerne mal verträumt im Park sitzt), fallen mir in Gesprächen mit anderen Mittelschicht-Kids immer die gleichen Argumente auf, warum man trotz des Zugangs zu sämtlicher Literatur nicht liest. Ein Thread:

Wir haben einfach keine Zeit. Wer hat das schon, Zeit. In unserer schnelllebigen Leistungsgesellschaft, die immer will, dass alles höher, schneller und weiter geht. Hinzu kommt die Freizeit, die wir, wenn wir sie denn haben, gerne mit anderen sonst auch sehr vielbeschäftigten Freunden verbringen. Oder nehmen wir andere Verpflichtungen wie die Tätigkeit in einem Verein. Da kann man kaum verlangen, dass wir uns abends noch hinsetzen und in Dostojewskis Schuld und Sühne stöbern.

Außerdem haben wir manchmal schlicht keine Lust. Auch das ist verständlich und stellt einen fließenden Übergang zum Punkt keine Zeit dar. Nehmen wir eine 21-jährige Studentin, die nach einem Tag voller Vorlesungen, Gruppenmeetings und dem Versuch, eine Studie von Beginn bis Ende zu lesen, schlicht weg keine Muße hat, sich jetzt weiterhin zig Seiten eloquent formulierter Phrasen zu geben.

Quelle: Tenor

Zu Guter Letzt gibt es dann auch noch das wachsende Medienangebot. Franz Kafka schrieb in einem Brief an seinen Freund Oskar Pollak im Jahr 1904, ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns. Heutzutage gibt es eben auch andere Möglichkeiten, unseren Gemütszustand aufzutauen: YouTube, Netflix, Disney+, Amazon Prime, DAZN, Spotify, ARD/ZDF Mediathek oder – für Menschen, die lieber hören als sehen – immer mehr Podcasts bieten eine Vielzahl von alternativen Werkzeugen. So können wir einen Abend auch guten Gewissens damit füllen, einen Film zu streamen. Und wer gedanklich ganz in eine fremde Welt eintauchen will, kann seine kognitiven Fähigkeiten in einem Videospiel anwenden.

Die Zeiten ändern sich, somit auch wir und das Medienrepertoire. Dass gewisse Bücher ebenso zu einer Art Verdummung beitragen können wie die ein oder andere Serie, steht außerdem nicht zur Debatte. Hinzu kommt, dass alte Medien neue ersetzen beziehungsweise das bestehende Angebot ergänzen: Denken wir an Vinyl-Schallplatten, die durch handlichere CDs ersetzt wurden, die dann wiederum von Spotify und Co. als Musikdatenträger abgelöst wurden: Sie bestehen trotzdem als Nischenmedien weiter und werden nie ganz verschwinden, so besagt es das Rieplsche Gesetz. Wieso sollte dies nicht auch für Bücher zutreffen?

Dieser Kulturpessimismus, wie Falschlehner schreibt, ist zudem keine neuzeitliche Erscheinung: schon seit hunderten von Jahren echauffiert sich die ältere über die jüngere Generation. Heute ist es TikTok, früher war es der Walkman und ganz früher waren es (tatsächlich!) Bücher. Falschlehner bringt das Beispiel unseres allseits bekannten Philosophen Sokrates, der voraussagte, die Schrift würde den jungen Menschen das selbstständige Denken rauben.

Aha.

Quelle: Tenor

Zwischenfazit: Nur weil die Welt der Bücher durch andere Medien ergänzt wird, heißt es nicht, dass sie niemand mehr würdigt.

Warum dann aber überhaupt noch lesen?

Auch wenn man sich anderweitig bilden, unterhalten und in eine andere Welt verkrümeln kann, würde ich nicht sagen, dass Bücher überflüssig sind. Für mich ist das Lesen eines Buchs eine völlig andere Erfahrung, als wenn ich einen Film anschaue. Allein das Gefühl, eine Seite umzublättern löst in mir etwas aus. Da ich nicht die Einzige sein kann, die Büchern eine so hohe Bedeutung zumisst, mache ich mich auf die Suche nach Verbündeten. Und wo finde ich die am besten? Richtig, auf der Buchmesse.

Wehende Fahnen der Buchmesse am Haupteingang der Messe Frankfurt.
© Frankfurter Buchmesse/Fernando Baptista

Vom 20.–24.10. zog die weltweit größte internationale Buchmesse in Frankfurt am Main wieder zahlreiche Bücher-Fans von nah und fern an. Bereits um 9 Uhr konnte man einen bunten Mix aus Buchliebhabern durch die Messehallen schlendern sehen: Fachbesucher, Journalisten, Autoren, Privatpersonen, allesamt verbunden durch mehr oder weniger stark ausgeprägtes literarisches Interesse. Und tatsächlich – wer hätte es gedacht –sehe ich junge Menschen, die lachend durch die Gänge laufen, in ihren Jute-Beuteln bereits mehrere Bücher mit sich rumtragen. Mich interessiert, wieso sie hier sind, weshalb sie lesen und warum andere Medien Bücher überholen.  

Lesen als Form der Unterhaltung

Für die Menschen, mit denen ich in Frankfurt gesprochen habe, macht es eigentlich gar keinen Unterschied, ob man sich einen Film anschaut oder ein Buch liest, erklärt mir jemand. Jedoch bieten Bücher den Vorteil, dass man es ohne Probleme von unterwegs aus machen und sich dabei alles selbst vorstellen kann. Indem man sich seine eigene Welt „erträumt“, schafft man eine ganz besondere Form der me time. Bei Streamingplattformen kann man sich zwar herrlich berieseln lassen, die eigene Fantasie wird beim Lesen durch die bloße Sichtbarkeit der Wörter jedoch viel mehr angeregt.

Ist Lesen vielleicht unattraktiver, weil wir unsere Fantasie durch die ständige Reizüberflutung in den Medien nicht mehr freien Lauf lassen können? Haben wir schon alles gesehen?

Lesen als Flucht in eine andere Welt

Einfach mal abschalten und raus aus dem Alltag, in dessen Bann wir jeden Tag gezogen werden. Dass Lesen eine Form des Eskapismus darstellt, war eine häufige Antwort. Viele können sich mit den Protagonisten identifizieren und fühlen sich wie ein Teil der Geschichte, in die sie eintauchen. Ein junges Mädchen erklärt mir, dass sie von Protagonisten ihrer Lieblingsbücher lernt und ganz andere Perspektiven bekommt.

Ist es nicht interessant, dass wir in eine andere Welt flüchten, um dort Antworten auf unsere realen Probleme zu finden?

Social Media ist cool, aber…

Soziale Netzwerke können einem viel Zeit rauben, Zeit, die man zum Beispiel auch damit verbringen könnte, ein Buch zu lesen. Wie einen ein Buch in den Bann ziehen kann, kann es eben auch der TikTok-Algorithmus und eh man sich versieht, verbringt man Stunden damit, irgendwelchen Typen mit viel zu weißen Zähnen dabei zuzusehen, wie sie im Fahrstuhl stehen und lächeln.

Watermelon sugar, hi.

Natürlich spielt Social Media auch bei Bücherwürmern eine Rolle. Alle jungen Menschen, mit denen ich gesprochen habe, sind auf Social Media aktiv. Als ich nach dem Unterschied zwischen Lesen von Buchseiten und dem Lesen von Instagram-Posts frage, ist die Antwort klar: Social Media lenkt zwar ab und kann auch ganz gut unterhalten, jedoch gibt auch diese fiktive Welt, die oft vorgibt, nicht fiktiv zu sein, bereits alles vor: Wie man auszusehen hat, welche Musik man sich anzuhören hat, warum der Auftritt von XY auf bei der Show völlig daneben war. Zudem ist alles idealisiert. Und wenn Probleme dann dargestellt werden, gibt es meist schon eine schnelle Lösung (und obendrauf vielleicht sogar einen Rabattcode).

Raum für eigene Interpretationen und Gedankengänge? Schwierig.

Young Bookstagram

Neben kreativen Tänzen und Avocado-Toasts findet auch Literatur auf Social Media statt. Ein Paradebeispiel ist Bookstagram, der Teil von Instagram, der sich mit Büchern beschäftigt. Zu dieser Community zählen unter anderem Verlage, Autoren und Bücherfans jeglichen Alters. Unter den Hashtags #bookstagram oder #bookstagramgermany teilen sie Beiträge rund um literaturbezogene Themen. Im Jahr 2019 haben sich einige bücher-affine Jugendliche, wie Bücher-Fan Mirai Mens, zusammengetan und die junge Community Young Bookstagram gegründet. Da sich junge Leser oft ein bisschen lonely fühlen, bietet die Plattform eine hervorragende Möglichkeit, um auch in der Altersgruppe U18 mehr Sichtbarkeit zu schaffen und die Möglichkeit einer einfacheren Vernetzung untereinander zu bieten. Auf ihrem Account stellen sie eigene Blogs ihrer Mitglieder vor und informieren über Aktionen und Veranstaltungen.

Ich habe mit einigen jungen Bookstagramerinnen sprechen können und habe auch sie gefragt, warum lesen für sie so wahnsinnig wichtig ist. Die 15-jährige Emma nennt ebenso die Argumente Realitätsflucht und das Lernen aus dem Geschriebenen. Auch für die 15-jährige Paula ist es so, dass sie durch Bücher in ganz andere Geschichten und Welten eintauchen kann. Indem sie ihre Erfahrungen dann auf Blogs und Young Bookstagram teilen, möchten sie die digitale und analoge Welt zusammenbringen. Bücher und Social Media, Lesen und Posten– eine Co-Existenz, die besonders für die ältere Generation unvereinbar scheint. Anstatt diejenigen zu loben, die Lesen, beziehungsweise selbst Anreize zu schaffen, beschweren sie sich lieber über die, die es nicht tun.

Sollten wir nicht aufhören, uns über Dinge zu beschweren, die nicht getan werden und lieber darüber reden, warum sie getan werden sollten?

Die lesebegeisterten Jugendlichen haben zum Schluss einen weiteren Aspekt angesprochen, auf den ich selbst gar nicht gekommen wäre: Die Bücher, die wir in der Schule lesen müssen, scheinen viele abzuschrecken, dies auch in ihrer Freizeit zu tun.

Jugendliche von Young Bookstagram posieren auf der Buchmesse auf einem Gruppenfoto
Quelle: Young Bookstagram/Mirai Mens

Vielleicht wäre es an der Zeit, dass die Lehrer dieses Landes Bücher im Unterricht lesen, von denen es nicht schon hunderte Zusammenfassungen und Interpretationen gibt. So würde vielleicht eher fürs Leben gelesen werden, statt für die Schule.

Auf die Frage, ob Bücher irgendwann aussterben, bekomme ich eine klare Antwort: Nein.

Frieden?

Bücher werden nicht verschwinden, sie werden immer Teil sein: Teil des Lernens, Teil der Geschichte, Teil unseres Lebens, Teil des Ursprungs. Schließlich steht am Anfang immer das geschriebene Wort. Ohne Lesen geht es nicht, sei es die Instruktion bei einem Videospiel oder die Caption eines Instagram-Posts oder eben der Umschlag 1528-Seiten-Schmökers.

Auch wenn die Welt immer digitaler und schneller wird, bleiben Bücher eine Möglichkeit, auf die Bremse zu treten. Und wer das nicht möchte, dem steht es absolut frei sich eine vorhersehbare Romantic Comedy anzuschauen. Jeder, wie er mag.

Es ist wichtig, dass vor allem die ältere Generation weg vom Narrativ des leseverdrossenen Smombies kommt und endlich aufhört, dieses auf alles unter 25-jährige extensiv zu expandieren. Diese Formulierung habe ich übrigens aus dem Podcast Lanz & Precht (ich musste nicht mal lesen, um mich bildungssprachlich weiterzuentwickeln, Wahnsinn!).

Es gibt sie, die jungen Menschen, die Bücher lesen, trotz des verlockenden digitalen Medienangebots. Wäre es nicht schön, wenn wir weg vom Narrativ der leseverdrossenen Generation Z hin zur medienkompetenten Multimedia-Generation kommen?

Vielleicht, liebe Elke und alle, die sich angesprochen fühlen, können wir uns darüber mal bei einem Chai Tea Latte (mit Hafermilch!!!) unterhalten. Ich habe zwar nicht so schöne Sessel wie Markus Lanz, aber auf meiner Couch wäre noch Platz…

Referenzen:

Falschlehner, G. (2015). Die Digitale Generation: Jugendliche lesen anders. Carl Ueberreuter Verlag GmbH.

Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest (2021). Jugend, Information, Medien. Basisuntersuchung zum Medienumgang 12- bis 19-Jähriger.

Young Bookstagram auf Instagram: @young_bookstagram


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