Gefühlt ein Jahr

Eine Kolumne von Kai Bosch

Ein Sprichwort besagt: „Leute überschätzen, was sie in einem Jahr erreichen können, und unterschätzen, was sie in zehn Jahren erreichen werden.“ Aber wie sieht es mit der gefühlten Zeit aus? Sie fließt für alle von uns unterschiedlich schnell. Manchmal vergehen Wochen wie im Zeitraffer, andererseits dauert nur ein besonders zäher Tag gefühlt ein ganzes Jahr. Wieviel Prozent unseres kompletten Lebens liegen in diesem gefühlten Jahr? Darauf kennt niemand die Antwort. Wenn wir wüssten, wieviel Zeit uns bleibt, würden wir bewusster handeln? Würden wir die Wartezeit aufs nächste Highlight, über die wir hoffen, sie möge möglichst schnell verrinnen, mehr genießen?

Eine Frau hat sitzt auf einem alten Sessel und hat eine Wanduhr auf den Kopf genschnallt

Die letzten Wochen des Kultur-Lockdowns kamen einem Großteil der Kulturbranche vor wie gefühlt ein ganzes Jahr. Seit einem knappen Jahr dürfen Theater und andere Spielstätten wieder zu hundert Prozent ausgelastet werden. Seitdem spielt in uns Kulturschaffenden die komplette Gefühlsklaviatur. Es war ein Auf und Ab: Ein Jahr lang hoffen auf ein kulturelles Comeback, der alten Zeiten, in denen die Live-Veranstaltungen hochlebten. Andererseits die Freude, überhaupt wieder auf der Bühne zu stehen und in strahlende Gesichter zu blicken. 2022 hatte ich in einem Monat beinahe so viele Auftritte als im kompletten Jahr 2021. Ich stand auf der Bühne, mit meinem abendfüllenden Soloprogramm, bei Duo-Shows, Poetry Slams und inklusiven Veranstaltungen. Mein Leben fühlte sich in manchen Monaten an, wie eine lange Tour. In manchen Monaten passierte so viel, dass die Menge der Erlebnisse ausgereicht für ein gesamte Jahr ausgereicht hätte. Dennoch habe ich nicht alles erreicht, was ich mir vorgenommen habe. Vielleicht habe ich mich klassisch überschätzt und versucht, in drei Monaten ein ganzes Jahr aufzuholen. Aber vielleicht unterschätze ich, wie viel ich in den kommenden neun Jahren erreichen werde.


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